Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
Ein Entkommen war fast unmöglich.
Es dämmerte. Es war einer dieser selten schönen Herbsttage gewesen. Sie hatte ihn keinen Moment genießen können, war aber dem Zufall dankbar.
Sollte Jakob in einem Versteck im Freien festgehalten werden, würde die Wärme seine Überlebenschancen erhöhen. Sylvia von Metzler hatte sich jede mögliche Information über Entführungen besorgt, und sie wusste nun, dass die Angst, die Jakob ausstehen musste, seinen Körper extrem stressen und seine Abwehrkräfte schwächen würde.
Ihr Blick streifte das Telefon. Nichts. Wenn doch endlich der erlösende Anruf kommen würde. »Hier ist die Polizei, wir haben Jakob gefunden, ihm geht es gut.« Oder wenn wenigstens die Entführer anrufen, ein Lebenszeichen von Jakob geben würden, nur einen Augenblick seine Stimme hören!
Nach dem Gespräch mit Hans-Joachim Wölfel wusste sie nicht mehr, wem sie trauen sollte. Es war furchtbar zu denken, dass eine Person, die sie kennen könnte, die vielleicht hier in ihrem Haus zu Gast gewesen war, ihrem Kind so großen Schaden zufügte. Aus Geldgier. Aus Rache? Wer könnte es sein?
Ob sie Jakob zu essen und zu trinken brachten? Ob er die Möglichkeit hatte, eine Toilette zu benutzen, oder musste er seinen Bedürfnissen in einer Kiste unter der Erde nachgehen? Hoffentlich würde die Polizei ihren Jakob bald finden. Die Chance, dieses Trauma ohne enormen psychischen Schaden zu überstehen, wuchs mit der menschenwürdigen Behandlung durch die Täter. Sie hoffte inständig, dass die Entführer dieses Wissen und Verständnis hatten. Hoffentlich gaben sie Jakob genügend Decken für die Nacht. Der Mensch erfriert so schnell, und der wolkenlose Himmel verhieß eine kalte Nacht.
»Nichts wird mehr sein, wie es vorher war«, so hatte Hans-Joachim Wölfel gesagt, »darauf müssen Sie sich vorbereiten! Ihr Sohn wird so voller Angst sein, dass Sie viel miteinander reden müssen und wahrscheinlich professionelle Hilfe benötigen werden.«
Friedrich von Metzler nahm seine Frau in die Arme. Die Angst um ihren Sohn hatte in den Stunden des Wartens seine wunderbare und lebensfrohe Frau in einen Schatten ihrer selbst verwandelt.
»Vor dem Essen mache ich noch ein paar Schritte mit Herrn Wölfel im Garten«, teilte er mit.
»Gut, wir sehen uns dann alle in einer Stunde bei Tisch.« Ihre Gedanken waren sofort wieder bei ihrem entführten Sohn.
An sein ansteckendes Lachen zu denken, zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Friedrich von Metzler schrieb mit fester Hand die wenigen Worte für die Entführer: »Wir haben unseren Teil der Forderungen erfüllt, und wir hoffen, dass Sie Jakob gut behandelt haben und ihn morgen so schnell wie möglich nach Hause kommen lassen. Unsere Telefonnummer ist: xxxxxxxx.«
Um 18.00 Uhr fuhren Friedrich von Metzler und sein Begleiter die Strecke zur Geldablagestelle ab und überprüften alles. Der Polizeibeamte war als Fahrer gekleidet, Friedrich von Metzler saß hinten, er war vom Innenlicht beleuchtet und von weitem erkennbar.
Die Vorbereitungen zur verdeckten Absicherung des Übergabeortes waren in vollem Gange. Im engeren Bereich wurden nur »schwache Kräfte« eingesetzt, das heißt, wenige besonders geschulte Polizisten, die sich versteckt hielten; im weiteren Umfeld waren zahlreiche Kolleginnen und Kollegen in Zivilkleidung an der Arbeit, teilweise zu Fuß, teilweise in Fahrzeugen. Um 22.00 Uhr war offizieller Einsatzbeginn, alle Polizisten standen auf ihren Positionen, Hunderte von Reserveeinsatzkräften warteten auf der Wache oder in Fahrzeugen auf den Ausfallstraßen. Wir waren bereit. Jeder erdenkliche Fluchtweg der Geldabholer wurde so observiert, dass diese die Anwesenheit der Polizei nicht bemerken würden.
Die Geldübergabe musste und konnte dank der Zeit, die der oder die Entführer gelassen hatten, reibungslos ablaufen. Wir hatten die Hoffnung, dass Jakob wie versprochen freigelassen werden würde, sobald die Täter das Lösegeld abgeholt hätten. Hielten die Täter an ihrer Tatplanung fest, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich auch an die weiteren Vorgaben halten würden und Jakob würde zu seiner Familie zurückkehren können.
Wir konnten nur noch abwarten.
Ich nutzte die Zeit, um nach Hause zu fahren und ein wenig zu schlafen. Mein Stellvertreter Jürgen P. war schon seit 20.00 Uhr da. Auf der Rückfahrt öffneten meine Gedanken an Jakob die Tür zu den wenigen Erinnerungen meiner Kindheit, Fragmente einer fast vergessenen Zeit.
Castrop-Rauxel, ich
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