Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
bin nur noch selten dort gewesen, das kleine Schneidergeschäft. Während Vater gebückt an seinem langen Arbeitstisch stand, Stoffe in Kleidungsstücke verwandelte, durfte ich manchmal dabei sein und mit den leeren Garnspulen spielen. Die staubige Luft, die vielen Stoffballen, die hölzerne Kreidekiste und die abgenutzten Schneiderpuppen, an denen die unfertigen Kleider hingen, waren mir noch in Erinnerung. Manchmal bimmelte die Klingel an der Eingangstür und ein Kunde unterbrach das Kratzen des Stiftes auf dem Schnittpapier oder das Treten der Nähmaschine und ihr monotones Gesurre.
Kurz bevor ich eingeschult wurde, erkrankte mein Vater, und mein Bruder und ich wurden zu den Großeltern nach Gießen geschickt. Dann war er tot. Es ging so schnell, doch die Leere, die blieb, dauerte viele Jahre an. Keinen Vater, kein männliches Vorbild … Ich habe mir fast alles selbst aneignen, zusammensuchen müssen. Nach der Beerdigung kam meine Mutter zurück und brachte mir Vaters Karl-May-Bände mit; ich war erst sechs Jahre alt, und nichts animierte mich mehr, lesen zu lernen, als die Geheimnisse, die ich in den Büchern vermutete. Wie die darin geschilderten Helden wollte ich ein Guter sein, helfen, das Böse zu bekämpfen.
Ein paar Jahre später lief ich nach der Schule die Treppe hoch nach Hause, die Küchentür stand offen, da sah ich meine Mutter am Boden liegen, ihr ging es nicht gut, sie war völlig überanstrengt. Diese Angst, die ich empfand, sie auch noch zu verlieren. Sie durfte nicht sterben. Ich holte meine Oma und wir versorgten meine Mutter.
Dieses Bild hatte ich weit hinten in meinem Kopf versteckt. Und in dieser Nacht ist es wiederaufgetaucht. Da denken wir, wir entschieden frei, wir handelten frei, wir hätten die Kontrolle über unser Leben. Aber es sind genau diese Erlebnisse, die sich ganz tief in unsere Psyche eingraben und ihr verborgenes Spiel mit uns treiben. Ein Moment der Schwäche meiner Mutter, den sie vielleicht kurz darauf vergessen hatte, hatte mein Leben geprägt, hatte sich verselbstständigt.
Ich wuchs mit Karl-May-Moral und schlechtem Gewissen auf, obwohl ich nichts getan hatte, für das ich mich hätte schämen müssen, fühlte mich aber für das schwere Leben meiner Mutter mitverantwortlich. Überall suchte ich nach Informationen darüber, wie ein Mann sein sollte.
Er kam pünktlich. Ein großer, schlaksiger junger Mann in einer dunklen Windjacke näherte sich, drehte sich immer wieder um, schaute, wartete ab, tat, als würde er den Fahrplan studieren, doch sein Blick haftete auf den Plastiktüten, die an der Straßenlaterne der Haltestelle Oberschweinstiege lehnten. Der junge Mann näherte sich den Tüten, schaute hinein, packte sie und verschwand daraufhin im Wald.
Auf einer Bank in der Nähe des Jacobi-Weihers überprüfte der junge Mann das Geld, er schien keine Eile zu haben. Er las den Zettel, den Jakobs Vater dem Geld beigelegt hatte, und legte ihn zur Seite. Manchmal blickte er auf, als würde er spüren, dass er beobachtet wurde. Er wählte den Weg am Ufer entlang, wo ihm zwei Polizeibeamte, ein fiktives Liebespärchen, begegneten, bog schließlich in Richtung Neu-Isenburg ab. Als er auf die Straßenbahngleise traf, lief er sie entlang. In einer Seitenstraße entsorgte er die Plastiktüten und das Schreiben Friedrich von Metzlers in einer privaten Mülltonne. Das Geld hatte er in seinen Rucksack gesteckt.
Sobald er in seinem Auto war, fuhr er los, bremste aber nach einer Kurve scharf ab und schaltete das Licht aus. Die Autos, die ihm gefolgt waren, fuhren weiter, das Kennzeichen des roten Honda Civic war schon längst weitergeleitet.
Als ich gegen 1.10 Uhr zu Hause angekommen war, rief ich sofort im Präsidium an, um zu erfahren, ob die Geldübergabe ohne Komplikationen abgelaufen war. Ein junger Mann hatte die Aldi-Plastiktüten mit dem Geld abgeholt, er stand unter Beobachtung.
Erschöpft stellte ich mich unter die Dusche, um abzuschalten. Ich brauchte Schlaf, um in der Früh wieder zu funktionieren.
Sobald ich die Augen schloss, erschienen Bilder von Jakob in meinem Kopf, sein Gesicht, wie ich es auf den Fotos gesehen hatte. Hoffentlich hielt er durch.
Mein Gott, er war erst elf Jahre alt, zwei Jahre älter als meine Tochter Lara, das war zu jung, um sich selber Mut zu machen, die Angst musste ihn verrückt machen, seine Überlebenschancen senken. Es waren fast drei Tage seit seiner Entführung verstrichen, für Jakob eine unendlich lange Zeit, wir mussten ihn
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