Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
Momentan sind es Wolfgang Daschner und ich, die wir ihn »gefoltert hätten«.
Nur er selbst wird vielleicht in ferner Zukunft beantworten können, warum er seine persönlichen Wünsche über alles gestellt hatte, über das Leben eines Kindes. Warum er kein Mitleid empfinden konnte, als Jakob verzweifelt nach Luft röchelte und ihn seine Augen verständnislos und voller Todesangst anstarrten.
Es wird sich aber nie eine Rechtfertigung für diese Tat finden lassen.
Zwei der drei falschen Verdächtigungen, nämlich die gegen die Brüder B., wurden von Gäfgen vor der Befragung durch mich ausgesprochen. Die dritte Verleumdung ist Teil seiner Verteidigungsstrategie und stand mit meiner Befragung in keinem Zusammenhang. Gäfgen wollte und will die Schuld an seiner Tat anderen in die Schuhe schieben, und er verleumdete Klaus H. Stunden nach meinem Verhör, ohne äußeren Druck, im Auto mit Kriminalhauptkommissar Bernd Mohn.
Nach Gäfgens Übergriffen auf die beiden Brüder wurde ihm eine Psychotherapie angeboten, er hat sie, gerade 18 Jahre alt geworden, abgelehnt. Ob eine Therapie zum damaligen Zeitpunkt das Leben Jakobs gerettet hätte, bleibt Spekulation.
Während des Prozesses wurde auch die Diebeslaufbahn von Gäfgen angesprochen. Nur der Diebstahl der kostbaren Breitling-Armbanduhr und eines Nokia-Handys konnten bewiesen werden, da das Diebesgut gefunden wurde und eine Anzeige vorlag. Hier wurde vielleicht in der Vergangenheit ebenfalls zu wenig unternommen. Fiel denn niemandem auf, wie versessen Gäfgen auf Statussymbole war und sie mit Respekt und Ansehen verwechselte? Dass er allem Anschein nach sogar seine Freunde bestahl. In Gäfgens Scheinwelt war kein Platz für einen kritischen Blick auf die Gesellschaft, im Gegenteil, er versuchte, sich an die Welt der Reichen so gut wie möglich anzupassen. Ein Leben ohne Geld schien Magnus ein nicht lebenswertes Leben, ohne Ansehen, ohne Respekt. Das Äußere, der Glanz, das hatte Relevanz.
Auch sein Jurastudium hatte er vermutlich nicht aus Leidenschaft, sondern im Hinblick auf spätere Verdienstmöglichkeiten gewählt, als Schritt in die »bessere« Gesellschaft. Für sein Lebenslügengebäude erwies sich sein Studium als grundlegend. Fiktive Arbeiten in angesehenen Anwaltskanzleien gaben ihm den Anschein von Weltoffenheit und Weitblick. Prahlend konnte er von dem vielen Geld erzählen, das er dort verdiente, den Vorschüssen für die Leistung, die er erbrachte.
Und prahlend band er die »große Liebe« seines Lebens an sich, Marianne K. Ihr gemeinsames Leben bestand überwiegend darin, Essen zu gehen, Markenartikel einzukaufen, Friseursalons und Nagelstudios zu besuchen und abends in Clubs herumzusitzen.
Lügen, Missbrauch, Lügen, Diebstahl, Lügen, Bedrohung, Lügen, Mord, Lügen – und das alles in einer ganz normalen deutschen Mittelstandsfamilie! Hätte diese Kette an krimineller Energie nie unterbrochen werden können? Durfte nicht sein, was nicht sein konnte?
Auf alle Fälle hat Gäfgen eine sehr ungünstige Rückfallprognose. Nur er selbst kann diese mit psychiatrischer Hilfe aufheben, wenn nach 15 Jahren Gefängnisaufenthalt geprüft werden wird, wie lange er noch bleiben muss oder ob er entlassen werden kann. Denn »die besondere Schwere der Schuld« bedeutet nicht, dass er automatisch länger einsitzen muss.
Mir geht es darum, darzustellen, wie eine angedrohte Nothilfe, um ein Kind zu retten, innerhalb kürzester Zeit zu einem fantastischen Foltermärchen mutieren konnte, zu einer Strafvereitelungsstrategie für einen Mörder wurde, und die Staatsanwaltschaft dabei nicht nur hilflos zuschaute, sondern dem Ganzen auch noch Vorschub leistete.
Während das Tatopfer Jakob in Vergessenheit rückt. Wieder geht es nur um Gäfgen, der im Mittelpunkt stehen will. Nach Ansicht des Kriminologen Francesco Sidoti scheint dieses Phänomen fast allen Mördern gemeinsam zu sein, dass sie rezitieren »wie verbrauchte Schauspieler, den Zuhörer zu manipulieren versuchen und sich um jeden Preis als Zentrum der Welt fühlen wollen«.
Erst war er das Opfer seiner Eltern, die zu sparsam waren, aber die 30 000 DM seines Vaters zu seinem 18. Geburtstag in Form eines Rentenfonds hat er eingesteckt und sich auch bis zuletzt monatlich Unterhalt von seinen Eltern zahlen lassen. Dann war er das Opfer von Marianne K. [Name geändert], die – wie er behauptete – so hohe Ansprüche hatte. Auch diese Lüge hat Rechtsanwalt Kempf schonungslos bloßgelegt. »Das stimmt nicht; er
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