Um Mitternacht mit dir im Bett
wirkungslos. “Seamus?”
Er rührte sich nicht.
Sarah rüttelte stärker und sprach lauter. “Seamus! Aufwachen!”
Keine Reaktion.
Angst überkam sie, als sein Kopf kraftlos zur Seite fiel. Sein Teint war grau. Sie schob ihm ein Augenlid hoch und bemerkte, dass die Iris nach hinten gerutscht war.
Hier stimmte entschieden etwas nicht.
Michael sah die Ambulanz schon von Weitem. Nachdem er das Tor passiert hatte, sprang er aus seinem Wagen und rannte ins Haus. Keuchend erreichte er den zweiten Stock.
Sarah stand vor der Tür seines Großvaters. Sie drehte sich um, als sie ihn kommen hörte. Beim Anblick ihres Gesichts gefror ihm das Blut in den Adern. “Was ist passiert?”, rief er ihr zu.
Sie hielt ihn auf, als er ins Zimmer stürzen wollte. “Ich habe Seamus bewusstlos im Bett vorgefunden. Momentan sind die Sanitäter bei ihm. Sein Arzt ist auch da. Blair hat ihn angerufen.”
Deshalb also die Wagen in der Auffahrt. Aber warum hatte man Seamus nicht in die Klinik gebracht? War sein Zustand zu kritisch, um ihn zu transportieren? “Was hat er?”
Beruhigend ergriff sie seine Hände. “Ich hörte, wie die Sanitäter etwas von einer möglichen Vergiftung sagten. Dann haben sie mich hinausgeschickt, um ihm den Magen auszupumpen. Wir müssen auf die Diagnose des Arztes warten.”
Vergiftung? Michael taumelte einen Schritt rückwärts. Es war ihm nicht gelungen, seinen Großvater zu beschützen. Seamus hatte an ihm Vaterstelle vertreten, hatte ihn bedingungslos geliebt, ihn nie enttäuscht. Michael wünschte, er könnte von sich dasselbe behaupten.
“Blair ist bei deinem Großvater”, erklärte Sarah. Mitfühlend drückte sie seine Hand. “Mach dir keine Sorgen. Solange die Sanitäter und der Arzt dabei sind, kann ihm nichts passieren.”
“Falls es nicht schon zu spät ist.” Er umarmte Sarah fest, womit er das Versprechen brach, das er ihr vor einer Woche noch gegeben hatte. Aber jetzt musste er sich auf einen lieben, anständigen Menschen stützen – auf eine Frau, deren Wärme ihn vor der kalten Leere bewahrte, die ihn plötzlich umgab.
Sarah ließ es geduldig geschehen, und ihre Nähe beruhigte ihn. Was eigentlich verwunderlich war, da diese ihm sonst jegliche Ruhe raubte. “Ich dachte, wenn das Testament verschwände, wäre das Problem gelöst”, flüsterte er an ihrem Haar. “Ich hatte fest damit gerechnet, dass sie aufgeben würde.”
“Wir wissen nicht, ob Blair Schuld hat”, gab Sarah leise zurück. Dann lehnte sie sich zurück, umrahmte sein Gesicht mit beiden Händen und musterte ihn kritisch. “Du siehst richtig fertig aus. Komm, setz dich.”
Michael wollte sie nicht loslassen. Dennoch tat er wie geheißen und setzte sich auf eine schmale gepolsterte Bank gleich gegenüber von Seamus’ Zimmer. Sarah nahm neben ihm Platz, doch er sah angestrengt auf die Tür. Was zum Teufel trieben die so lange da drin?
“Blair wirkte sehr besorgt”, bemerkte Sarah.
Michael wandte sich ihr zu. “Cole hat heute seinen Bericht über sie abgeliefert.”
“Und?”
“Blair ist nicht ihr richtiger Name. Und Ballingham auch nicht.”
Sarah seufzte. “Ich finde es furchtbar traurig, gegen ein Mitglied der eigenen Familie zu ermitteln.”
“In diesem Fall war es nötig”, verteidigte er sich. “Ihr wahrer Name ist Casey Winters. Sie wuchs bettelarm in einem kleinen Ort in Oklahoma auf. Mit zwanzig war sie zum ersten Mal verheiratet. Sie hat drei Kinder, die bei ihrer Schwester leben. Was meinst du, wer ihnen jeden Monat Geld schickt?”
“Das heißt doch nicht, dass sie ein schlechter Mensch ist. Im Gegenteil.”
“Aber sie ist eine Lügnerin”, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. “Mein Großvater weiß von alldem nichts. Sie erzählte ihm lauter erfundene Geschichten. Zum Beispiel dass sie die besten Internate in Europa besucht hätte und dann Model wurde. Wenn ihm etwas geschieht …” Die Stimme versagte ihm, und er atmete ein paar Mal tief durch, ehe er weitersprechen konnte. “Er ist alles, was ich noch an Familie habe. Der einzige Mensch auf der Welt, dem etwas an mir liegt.”
Sarah nahm seine Hand. “Das ist nicht wahr.”
Sein Kopf fuhr herum, und er sah sie mit großen Augen an. Doch bevor er sie bitten konnte, ihre Worte näher zu erklären, wurde die Tür geöffnet und der Arzt kam heraus.
Michael stand auf, Sarah mit ihm. “Nun?”
“Seamus Wolff ist der zäheste Siebzigjährige, den ich kenne”, sagte Dr. Kluver. “Er müsste bald
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