Um Mitternacht mit dir im Bett
“Ich hatte Sie davor gewarnt, die Strecke zwei Mal zu machen.”
“Dummes Zeug. Du musst ja immer meckern.” Er sah zu ihr hoch, und sie entdeckte den Schalk in seinen braunen Augen. “Oder hast du Angst, ich könnte dich abhängen?”
Sie lächelte nachsichtig, erfreut, dass sich seine Laune zusammen mit seiner körperlichen Verfassung immer mehr verbesserte. Er besaß einen bissigen Humor und einen hellwachen Geist. Genau wie sein Enkel.
Doch davon hatte sie in letzter Zeit wenig gespürt, weil sie ihn kaum noch zu sehen bekam. Ganz wie versprochen, hielt er sich von ihr fern. Es gab keine langen Blicke mehr, keine zufälligen Berührungen. Und keine heißen Küsse auf dem Flur.
Sarah versuchte, sich einzureden, dass es ihr nichts ausmachte. Dass ihre Gefühle für Michael zu nichts führten – für einen Mann, der glaubte, die Liebe sei ihm durch einen Fluch verwehrt.
Als sie ein Glas Wasser aus dem Krug für Seamus eingoss, fiel ihr Blick auf den Brief ihrer Großmutter. Cole Rafferty hatte ihn tatsächlich vor einigen Tagen zurückgebracht, genauso wie von Michael vorgesehen. Seitdem bewahrte er den Brief in Sichtweite auf seinem Nachttisch auf.
“Sag bloß, du bist nicht nur eine Meckerliese, sondern auch noch eine Schnüfflerin”, sagte Seamus, der ihren Blick bemerkte.
Mit einem Lächeln reichte sie ihm das Glas. “Ich gebe zu, ich würde gern wissen, warum dieser alte Brief Ihnen so wichtig ist.”
“Meine Frau auch.” Seamus trank einen großen Schluck, leckte sich genüsslich die Lippen und seufzte befriedigt. “Dabei ist es nur ein Abschiedsbrief. Kannst du dir vorstellen, dass eine Frau einen stattlichen Burschen wie mich einmal abgewiesen hat?”
Das Lächeln erreichte nicht seine Augen. Sarah lehnte sich an seinen Sessel. “Die Lady wird einen guten Grund gehabt haben.”
Er zuckte die Achseln. “Mir hat er nicht eingeleuchtet.”
“Sie haben sie wohl sehr geliebt.” Es war eine Feststellung, keine Frage.
Einige Sekunden lang dachte Sarah, er würde ihr nicht antworten. Doch dann, nachdem er stumm in sein Glas gestarrt hatte, sagte er: “So bedauerlich es ist, aber Anna war die einzige Frau, die ich wirklich geliebt habe. Denn sie war die Einzige, der ehrlich etwas an mir lag.”
Sein trauriger Ton schnürte Sarah fast die Kehle zu. “Blair liegt auch viel an Ihnen.”
“Blair braucht mich.” Er trank noch einen Schluck. “Das ist ein großer Unterschied. Und jetzt hinaus mit dir. Ich bin müde.”
So viel also zu seiner guten Laune. Aber schließlich war es ihre eigene Schuld, wenn sie ein selbst nach all den Jahren so heikles Thema ansprach.
Nachdem sie Seamus zu Bett gebracht hatte, ging sie in den Wintergarten im Erdgeschoss, um mit ihrem Hund zu spielen. Napoleon begrüßte sie überschwänglich; er schien dicker geworden zu sein.
Sie griff nach einem Gummiball. “Verwöhnt nach Strich und Faden, wie man sieht.”
Napoleon sprang ihr um die Beine, schier außer sich vor Freude. Sie warf den Ball von sich, und er rannte bellend hinterher.
Doch Sarah war in Gedanken bei dem Gespräch mit Seamus. Sie dachte an seinen erloschenen Blick, seinen klagenden Ton.
Sie hatte geglaubt, indem sie dieses Haus und Michael verließe, könnte sie vergessen, welche Leidenschaften er in ihr geweckt hatte. Und dass er ihre Seele berührt hatte wie noch kein Mann zuvor. Aber wenn sie ihn nun nicht vergessen könnte? Wenn auch sie in fünfzig Jahren dem verpassten Glück nachtrauerte?
Als Napoleon mit dem Ball zwischen den Zähnen angetobt kam, nahm sie ihn hoch und drückte ihn an sich. “Was soll ich bloß tun, Nappy?”
Der Terrier gab ihr bellend seine Meinung kund, wobei der Ball ihm entfiel und auf den Boden prallte. Sofort sprang er ihr von den Armen und jagte hinterher.
Der Hund konnte ihr Problem nicht lösen. Sie musste sich auf sich selbst besinnen.
Am späten Nachmittag, nachdem Sarah vergeblich versucht hatte, sich abzulenken, klopfte sie leise an Seamus’ Tür, ehe sie eintrat. Er lag tief schlafend und mit geöffnetem Mund im Bett, den halb leeren Wasserkrug neben sich.
Sie nahm seine Schmerztabletten aus der Schublade des Nachttischs. Während sie sich über Seamus beugte, um ihn sacht an der Schulter zu rütteln, machte sie sich insgeheim Vorwürfe, ihm den anstrengenden Spaziergang erlaubt zu haben. “Aufwachen, Seamus, es ist Zeit für Ihre Tabletten.”
Sie weckte ihn ungern, aber wenn er seine Medikamente nicht regelmäßig nahm, waren sie
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