Umzug ins Glück
Nachdruck. »Versicherungen mögen es nicht gern, wenn man ihnen Schäden
erst mit großer Verzögerung meldet.«
»Ich versuche es gleich morgen«, versprach Jan Hörnum und steckte den Zettel ein. Ich überlegte, ob ich Frau Grützbauer bitten
sollte, ihn daran zu erinnern, aber dann fiel mir ein, dass ich sie dazu anrufen müsste, und das würde ich freiwillig niemals
tun.
»Ich war bei Ihrer Tante«, berichtete Hörnum. Vermutlich, um das Thema zu wechseln. »Die hat mir erzählt, dass sie in die
Ruheresidenz Silvretta ziehen wird. Da bin ich direkt mal dort vorbeigefahren, um mir das selber anzuschauen. Ein sehr schönes
Haus.«
»Ja, ich hab’s auch schon gesehen«, sagte Nick. Er wollte wohl nicht den Eindruck erwecken, als ob es ihn weniger interessierte,
wo Paula ihren Lebensabend verbringen wollte, als einen Außenstehenden. Jetzt war ich die Einzige, die bloß eine ungefähre
Vorstellung davon hatte, wo diese Luxusresidenz überhaupt war.
»Gleich mehrere Leute haben mich erkannt und angesprochen«, fuhr Jan Hörnum stolzgeschwellt fort. »Da habe ich spontan angeboten,
dort am Sonntag eine Lesung zu machen.«
»Eine Lesung?«, fragte ich. »Was werden Sie denn lesen?«
»Norddeutsche Gedichte«, erklärte er. »Ich habe in den letzten Jahren schon häufiger so etwas gemacht. Storm, Liliencron,
Matthias Claudius … Wilhelm Busch kann man auch noch dazurechnen, oder Fritz Reuter.«
»Aha«, machte ich etwas hilflos. »Ich fürchte, davon kenne ich Wilhelm Busch am besten.«
»Sie kennen bestimmt mehr als Sie denken«, sagte Jan Hörnum. Und dann begann er zu deklamieren:
»Wohl rief ich sanft dich an mein Herz,
Doch blieben meine Arme leer;
Der Stimme Zauber, der du sonst
Nie widerstandest, galt nicht mehr.
Was jetzt dein Leben füllen wird,
Wohin du gehst, wohin du irrst,
Ich weiß es nicht; ich weiß allein,
Dass du mir nie mehr lächeln wirst.«
Ich muss zugeben, ich war total fasziniert. Der Mann, der mich sonst entweder provozierte oder mein Mitleid erregte, konnte
mit einer solchen Eindrücklichkeit rezitieren, dass es mich fast zu Tränen rührte. Da passte plötzlich der norddeutsche Tonfall.
Da übersah man die alberne Frisur und das cremefarbene Sakko, das er heute zu einer karierten Hose trug. Man achtete nur noch
auf diese Stimme. Er hatte gut daran getan, Schauspieler zu werden, wobei er in dümmlichen Filmen wie ›Rettungs kreuzer Balthasar‹ sein Talent nicht ausspielen konnte.
»Das kenne ich nicht«, sagte ich. »Von wem ist das?«
»Theodor Storm«, sagte er und erhob sich ziemlich abrupt. »Noch Kaffee?«
»Das ist sehr schön«, musste auch Nick zugeben und hielt ihm seine Tasse hin.
»Das werde ich gegen Ende lesen«, sagte Jan Hörnum. »Möchten Sie vielleicht auch kommen? Am Sonntag um sechzehn Uhr.«
»Mal sehen«, sagte Nick zögernd.
»Na, Sie können es sich ja noch überlegen. Sie wissen ja, wo es ist. Vielleicht bringen Sie Paula auch mit.«
»Wo wir gerade von ihr sprechen«, sagte Nick. »Sie hat Ihnen ja sicher gesagt, dass sie uns ihr Haus überlässt?«
»O ja. Eine gute Idee, finde ich. Da bleibt es in der Familie. Es gibt ja so viele Erinnerungsstücke hier …«
»Wobei wir natürlich unsere eigenen Sachen mitbringen werden«, sagte Nick. Mir fiel auf, dass er mich bereits mit einschloss,
aber ich kommentierte das nicht. In Anwesenheit von Jan Hörnum würde ich mit ihm nicht darüber streiten. »Wir werden deshalb
relativ bald anfangen, hier aufzuräumen.«
»So, so«, sagte Jan Hörnum. »Und wie haben Sie das vor?«
»Mit einem großen Container«, sagte Nick sachlich.
Jan Hörnum verzog schmerzlich das Gesicht. »Das klingt aber herzlos! Was soll denn Ihre Tante … Stiefmutter … Paula denken? Das ist ihr Leben, das Sie da wegwerfen wollen!«
»Es sind ihre Sachen«, korrigierte Nick. »Und zwar die, die ihr nicht wichtig genug sind, um sie mit in die Residenz Silvretta
zu nehmen. Wir wollen hier kein Museum einrichten.« Jetzt fand ich auch, dass es ein bisschen brutal klang.
»Aber es gibt durchaus andere Möglichkeiten«, argumentierte Jan Hörnum. »Machen Sie doch einen Garagenverkauf.«
Ich runzelte die Stirn. »Die Garage verkaufen? Wieso denn das?«
Er lächelte mich mitleidig an. »Das haben Sie noch nie erlebt, was? Es heißt nicht, dass man die Garage verkauft, sondern
Sachen in der Garage anbietet. Oder auch im Garten, wenn das Wetter mitspielt. Dann kann man anderen
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