Unberuehrbar
Blick auf den reglosen Menschen hinunter. Ja, dachte er, was hatte er eigentlich mit ihm gemacht? So betrachtet, war es recht ungewöhnlich, dass er schon so lange bewusstlos war.
»Kris?« Reds Stimme riss ihn aus seiner Versunkenheit. Er war näher getreten, die Stirn tief gerunzelt. Kris konnte sein Blut riechen, das Blut, das er gerade in diesem Augenblick so dringend brauchte. Red spürte das, das wusste Kris. Und ihm war auch schmerzhaft klar, dass Red sich deswegen bewusst von ihm entfernt hielt. Warum nur?
Kris schüttelte den Kopf, um das taube Gefühl abzuschütteln, das sich über seine Gedanken gelegt hatte.
»Er wird bald wieder aufwachen«, sagte er und spürte, wie ein mechanisches Lächeln auf seinem Gesicht erschien. »Mach dir keine Sorgen.«
Elizabeths Mund blieb einen Moment lang offen stehen. Ihre Augen funkelten vor Wut. »Was denkst du dir eigentlich? Glaubst du, nur weil du ein Vampir bist, kannst du mit uns machen, was du willst?«
Kris spürte, wie seine Hände zu zittern begannen. Er hatte keine Zeit und vor allem keine Geduld, mit einem Menschenmädchen zu streiten! Er hatte das Gefühl, ihren Anblick nicht eine Sekunde länger ertragen zu können.
»Ihm ist nichts geschehen, Elizabeth, ich verspreche es dir.« Er stand auf – vorsichtig, weil das Flimmern vor seinen Augen immer stärker wurde – und sah zu Red, der noch immer mittief gerunzelter Stirn das Gespräch verfolgte. »Lass uns gehen. Die Sonne geht bald auf.«
Für ein paar Sekunden sagte Elizabeth nichts. Dann aber reckte sie das Kinn vor und machte einen Schritt nach vorn.
»Du kannst ihn nicht haben«, sagte sie laut und deutlich. »Red bleibt bei mir.«
Ihre Worte durchzuckten Kris wie ein Blitz. Doch noch bevor er reagieren konnte, rührte sich endlich auch Red. Mit einem entschlossenen Schritt trat er zwischen sie.
»Es reicht. Elizabeth, bitte.« Er warf Kris einen Blick zu, der schien, als wolle er um Verzeihung bitten. Aber Verzeihung für was? Kris wurde plötzlich eiskalt. Die Finsternis in seinem Inneren begann sich zu bewegen und Blasen zu werfen. Er sah Elizabeth nicht mehr an, starrte nur auf Red, der seinen Blick mit mühsam aufrechterhaltener Gelassenheit erwiderte. Und in der Tiefe seiner Augen erkannte Kris das Versprechen, das Red in dieser Nacht dem Menschenmädchen gegeben hatte.
Er würde ihn verlassen.
Kris rang tonlos um Atem, ballte die Fäuste, bis seine Handflächen aufsprangen. Aber der Schmerz war nichts gegen den sengenden Frost in seinem Inneren.
»Nein«, flüsterte er rau. »Ich brauche dich!«
Langsam schüttelte Red den Kopf. Kris sah, wie schwer es ihm fiel, die Worte auszusprechen, sah die Sorge und die unausgesprochenen Fragen. Was vorgefallen war, warum es Kris so schlecht ging, und was mit diesem bewusstlosen Mann geschehen war. Aber Kris sah auch die Entschlossenheit in Reds Augen, all das hinter sich zu lassen. Eine unumstößliche Entschlossenheit, die Kris die Kehle zusammenpresste.
»Ich bin ein Mensch, Kris«, sagte Red. »Ich möchte zu Menschen gehören.«
Die Finsternis bäumte sich auf, so heftig, dass Kris schwarzvor Augen wurde und er Red nur noch wie durch einen Schleier sehen konnte.
Nein!,
dachte er, das konnte er nicht zulassen!
Sein Mund formte die Worte ohne sein Zutun, während sich seine Hände bereits nach Reds Schultern ausstreckten. »Aber das kannst du nicht mehr«, hörte er sich wispern, mit einer Stimme wie Sturmgeheul aus weiter Ferne. »Du gehörst zu mir!«
Das Blut wich aus Reds Wangen, als die Worte in ihn hineinflossen. Seine Pupillen weiteten sich, und Kris spürte, wie unter seinen Fingern ein Schauer durch seinen Körper lief. Keuchend entwich die Luft aus Reds Lungen. »Hör auf damit!«
Es war zu spät.
»Nur zu mir«, flüsterte Kris rau. »Für immer!«
Wie ein verblassendes Echo hörte er Céleste lachen. Oder weinte sie?
Ich kann nicht loslassen, was ich liebe, mein Bruder. Ich kann es nicht!
Nein, dachte Kris, sie hatte es nicht gekonnt. Genauso wenig, wie er es konnte. Mit einem Ruck riss er Red an sich, vergrub den Kopf in seiner Halsbeuge und trank; hielt ihn mit seinen Armen und allen Sinnen fest. Er trank, trank und trank, spürte wie Reds Widerstand endlich brach und die Barriere zwischen ihnen fiel. Wie sie wieder eins wurden wie zwei Teile eines Puzzles, die perfekt ineinander passten. Nur am Rande seines Bewusstseins nahm er das Ziehen und Zerren des Menschenmädchens wahr, das verzweifelt versuchte, Red von ihm
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