Unberuehrbar
durchzogen. Kris hatte das Zeitgefühl schon vor einer ganzen Weile verloren, und er war bis auf die Haut durchnässt. Aber das kümmerte ihn nicht. Er hatte längst den Punkt erreicht, an dem er nasser nicht mehr werden konnte, also war es jetzt auch egal. Sein Kopf fühlte sich seltsam leer an, oder vielleicht war er auch einfach so voll, dass er keine einzelnen Gedanken mehr unterscheiden konnte.
Er hätte nach Chase sehen sollen. Das war das Einzige, was immer wieder aus dem trüben Sumpf in seinem Kopf aufstieg. Aber die Vernunft war nicht stark genug, um ihn zum Handelnzu treiben. Chase würde schon nach ihm suchen, wenn er aufwachte. Und er würde ihn finden. Da war Kris sich sehr sicher. Schließlich teilten sie jetzt sein Blut.
Und tatsächlich hörte er irgendwann, eine weitere bleigraue Ewigkeit später, Schritte hinter sich auf dem Weg.
Kris drehte sich nicht um. Chase brauchte keine Einladung.
Der jüngere Vampir hockte sich ans Ufer, so dicht an den Wassersaum, dass die Wellen wieder und wieder über seine Stiefel schwappten. Mit den Händen formte er eine Schale und warf sich Wasser ins Gesicht, während der Regen noch aus seinen Haaren tropfte; rieb den gelblichen Schorf fort und den säuerlichen Geruch, der selbst jetzt noch stechend zu Kris herüberdrang, von seinen Wangen, seinem Hals und seinen Armen. Und schließlich setzte er sich neben Kris auf den Findling und sah ebenfalls auf das Wasser hinaus. In der Hand hielt er einen nassen Kiesel, so groß wie ein Taubenei, den er zwischen den Fingern hin und her drehte. Eine ganze Weile schwiegen sie. Sahen sich nicht mal an. Schließlich aber holte Chase aus und warf den Kiesel in den See hinaus. Das Platschen, mit dem er auf die Wasseroberfläche auftraf, ging unter im stetigen Rauschen des Regens. Langsam ließ Chase den Arm wieder sinken und wandte sich Kris zu.
»Wo ist er?«
Kris gab keine Antwort. Er ahnte, dass Chase ohnehin an seinem Gesicht würde ablesen können, was passiert war. Er konnte das Stirnrunzeln beinahe hören.
»Ich würde dir raten, mir jetzt genau zu erzählen, was passiert ist.« Chase’ Stimme klang finster.
Kris hob leicht die Schultern. »Ich habe dich nicht nach deinem Rat gefragt.« Sein rechter Mundwinkel zog sich zu einem zynischen Lächeln nach oben. »Aber ich schätze deine Dankbarkeit, Chase. Ich habe dir gern das Leben gerettet.«
Wenn überhaupt möglich, war Chase’ Schweigen nun noch grimmiger als vorher.
»Warum hast du ihn nicht aufgehalten?«, fragte er schließlich. »Du bist doch sonst nicht so zimperlich.«
Kris ließ die Finger über die raue Oberfläche des Findlings gleiten und schwieg. Natürlich, er hätte Chase erklären können, dass er es nicht wollte. Dass es ihm wichtig war, wenn Red aus freien Stücken bei ihm blieb und nicht unter Zwang. Aber obwohl das im Grunde die Wahrheit gewesen wäre, kratzte es doch nur an der Oberfläche und trieb schlimmstenfalls Risse in die Eisschicht, die die Abgründe verbarg, die darunter lagen. Abgründe, über die Kris mit Chase nicht reden wollte, über die er aber reden
würde,
wenn jemals wieder Tageslicht darauf fallen sollte. Er wollte nicht darüber nachdenken. Nicht über Céleste und auch nicht über das, was noch tiefer lag – über Gregor. Seinen Vater. Über die Nächte im Käfig, von denen Kris nicht wusste, ob die Dunkelheit, in der sie verschwanden, die des Verlieses war oder doch seine eigene.
Chase neben ihm seufzte. »Und was hast du jetzt vor, um ihn zurückzuholen?«
Kris sprang vom Findling. Wasser spritzte, und Kies knirschte unter seinen Sohlen. »Gar nichts. Ich habe kein Recht mehr auf ihn. Wir lassen ihn hier, wie er es wollte.«
Chase riss die Augen auf. Zum ersten Mal, seit Kris ihn kannte, hatte er das Gefühl, Chase wirklich aus der Fassung gebracht zu haben. »Jetzt drehst du total ab, oder? Was soll der Mist?«
Langsam schüttelte Kris den Kopf. »Wir können nicht hierbleiben. Das wirst du dir wohl schon gedacht haben, nach allem, was letzte Nacht passiert ist. Ich werde Red nicht zwingen, uns zu begleiten. Und du auch nicht.«
»Du bist doch echt ein selten dämlicher Idiot!« Auch Chasestand nun auf. Seine Stimme glich einem wütenden Knurren. »Was hast du gemacht, dass er abgehauen ist? Und erzähl mir nicht, dass er dich wegen dieser Tussi abgeschossen hat! Das ist doch Schwachsinn!«
Kris runzelte unwillig die Stirn. Das Letzte, was er vorhatte, war, Chase über die Einzelheiten seines Fehltritts in
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