Unberuehrbar
vor Dorians Nase. Zum Teufel mit diesem Kerl! Glaubte er wirklich, dass er sich so leicht an der Nase herumführen ließ? Cedric schüttelte gereizt den Kopf und stellte die Einkaufstüten mit den Kleidern für Frei neben seinen Schreibtisch, ehe er die Schreibtischlampe einschaltete und seinen Kittel aus dem Schrank nahm.
In diesem Moment erklang auf dem Flur erneut das Klingeln des Fahrstuhls und kurz darauf Pei Lins zierliche Schritte. Viel zu früh. Mal wieder. Cedric blieb neben seinem Tisch stehen und lauschte. Dorian war immer noch dort draußen. Was würde er nun tun? Würde er dreist genug sein, Cedrics Assistentin direkt vor seiner Nase noch einmal zu beeinflussen? Cedric traute es ihm durchaus zu.
»Mrs. Mae, wie schön, Sie zu sehen.« Das Lächeln war Dorians Stimme deutlich anzuhören.
»Mr. Keaton.« Pei Lin antwortete auf seine Begrüßung mit einer Mischung aus reservierter Freundlichkeit und Misstrauen. Natürlich, dachte Cedric – sie war alt genug, um zu wissen, was Dorian gestern mit ihr angestellt hatte, nachdem die Wirkung seiner Gabe verflogen war, und sie war von Natur aus vorsichtig. Aber das würde ihr auf Dauer nicht helfen. Nicht gegen Dorian. »Was machen Sie denn hier?«
Dorian schwieg einen Moment, als sei er peinlich berührt. »Ich wollte Dr. Edwards die Laborbücher wiedergeben, aber …«
Cedric konnte sich fast zu genau vorstellen, wie Pei Lin die schmalen Brauen hob und die Andeutung eines verständnisvollen Lächelns in ihren Mundwinkeln erschien. Er hatte seine Assistentin oft genug genau so auf dem Flur stehen lassen, wie er es eben mit Dorian getan hatte.
»Oh, das können Sie natürlich nicht wissen. Er mag es gar nicht, wenn man ihn vor elf Uhr abends stört.«
»Ist das so?« Dorian klang nun zerknirscht – die perfekte, reuige Unschuld. »Das wusste ich wirklich nicht.«
»Ja, nun.« Pei Lins Stimme klang von Sekunde zu Sekunde wärmer und offener.
Geteiltes Leid ist immer noch Leid,
dachte Cedric zynisch.
Was Mitgefühl so alles anrichten kann.
»Lassen Sie sich von seinen Launen nicht zu sehr aus der Fassung bringen. Wenn es wichtig ist, wird er Ihnen zuhören. Er hat ein wirklich gutes Herz.«
An dieser Stelle wäre Cedric beinahe ein überraschtes Lachen herausgerutscht. Ein gutes Herz! So also dachte Pei Lin über ihn? Das war wirklich erstaunlich, nach all den Ungerechtigkeiten, die sie unter seiner oft mehr als wechselnden Stimmung ertragen musste.
»Oh, das bezweifle ich keine Sekunde.« Dorians Stimme klang nun noch weicher als zuvor. »Ich habe ihn immer bewundert. Und ich will ihn wirklich nicht verärgern, verstehen Sie?«
Pei Lin ließ ein nachsichtiges Seufzen hören. »Hören Sie, ich habe jetzt einen Termin bei ihm. Ich lege ein gutes Wort für Sie ein, einverstanden?«
»Das würden Sie tun?«
»Natürlich, machen Sie sich keine Sorgen.« Cedric hörte die letzten Reste von Pei Lins Misstrauen schmelzen wie Schnee inder Sonne. »Ich schicke ihn später zu Ihnen. Es könnte allerdings etwas dauern.«
Cedric hielt es nicht länger aus. Dieses Theater war doch einfach nicht zu ertragen. Dorian wollte ihn also sprechen? Das sollte er haben. Er ging zurück zur Tür und zog sie mit einem ungeduldigen Ruck auf. »Kommt rein. Beide.«
Er sah, wie Pei Lin zusammenzuckte, als hätte er sie bei einem heimlichen Stelldichein ertappt. Flammende Röte stieg ihr in die Wangen, und sie zog die Schultern hoch, als wolle sie sich zwischen ihnen verstecken. Dorian seinerseits brachte es tatsächlich fertig, redlich überrumpelt auszusehen. Cedric lächelte freudlos und wandte sich um, um zurück zu seinem Schreibtisch zu gehen. Die Tür ließ er offen. Nacheinander betraten seine zwei Mitarbeiter den Raum – Pei Lin mit vorsichtigen Schritten, Dorian mit sanfter Belustigung in den Mundwinkeln.
»Setzt euch.« Cedric wies auf die Besucherstühle, die vor seinem Tisch standen, und ließ sich ebenfalls in seinen Schreibtischstuhl sinken. »Also.« Er fixierte zunächst Dorian mit stechendem Blick. »Was hast du für ein Anliegen, außer dass du mir diese Bücher zurückgeben willst, deren Inhalt du unmöglich in so kurzer Zeit aufgenommen und verarbeitet haben kannst?«
Dorian räusperte sich und wischte damit das spöttische Lächeln aus seinem Gesicht. Er legte die Notizbücher auf den Schreibtisch und lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück, um Cedric aufmerksam zu mustern. »Also … mal ganz im Ernst, Cedric. Sei mir nicht böse, deine Sorge rührt
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