... und dann bist du tot
genauso aufgetragen, wie sie es mochte. Mutter war tot. Er würde sie nie mehr sehen oder berühren oder hören. Und in nur wenigen Minuten würden ihr Leichnam und ihr Sarg für immer aus seinem Blickfeld verschwinden, um vom Feuer verzehrt zu werden.
Sie hatte ihr eigenes Begräbnis geplant. Die Ärzte hatten gesagt, sie werde ein hohes Altes erreichen, doch sie hatte ihnen nicht geglaubt. Und sie hatte Recht behalten. Die Ärzte hatten gelogen, und darum saß er nun auf der vordersten Kirchenbank neben seiner Cousine Beatrice, die an Mutters speziellem Ort gearbeitet hatte, und hörte der
Musik zu, die Mutter ausgewählt hatte. Ihren geliebten Wagner. Er hätte gerne geweint, doch seine Augen blieben trocken, denn sie wollte nicht, dass er weinte.
»Helden weinen nicht«, hatte sie gesagt, »außer wenn sie ganz alleine sind .«
Die Musik verstummte, und die kleine Gemeinde kniete noch einmal nieder, um zu beten. Ein Splitter grub sich in sein linkes Knie. Er konzentrierte sich auf den Schmerz, drückte das Knie noch härter auf den Holzboden, und als er wieder aufstand, glänzten seine Augen, waren aber noch immer trocken. Seine Cousine Beatrice flüsterte: »Du kannst ruhig weinen, Freddy.« Da hob er sein Kinn, und in seinem Gesicht spiegelte sich grenzenlose Verachtung.
»Helden weinen nicht«, antwortete er.
Der Moment rückte näher, da die Türen geöffnet wurden und der Sarg zur Einäscherung gebracht wurde. Mutter sagte immer, dass sie verbrannt werden wollte, weil Brünnhilde sich in der Götterdämmerung ins Flammenmeer warf, nachdem ihr Gatte getötet worden war.
Wagner erklang wieder, und die wunderschöne Musik stieg empor. Er sah, dass die Türen leise geöffnet wurden und richtete seinen Blick nun aufmerksam auf seine Mutter, die man in ihrer Kiste nicht sehen konnte und die ihren Weg in die Flammen und gen Himmel antrat. Plötzlich freute er sich für sie, weil alles so war, wie sie es sich gewünscht hatte. Es war schön, heroisch und geheimnisvoller und würdiger, als in der Erde versenkt zu werden. Und er fragte sich, ob sie seinen Vater schon gefunden hatte oder ob sie einander erst nach der Verbrennung treffen würden.
Die Türen wurden wieder geschlossen. Die Gemeinde erhob sich, aber er blieb noch sitzen, bis Beatrice ihn anstieß. Dann stand er auf, und sie verließen hintereinander langsam und schweigend die Kirche.
Die Explosion war gewaltig und ohrenbetäubend. Sie übertönte die Musik und schleuderte sie alle zu Boden. Er konnte nicht sprechen und konnte kaum atmen, doch er war nicht verletzt und konnte seine Arme und Beine noch bewegen. Irgendjemand schrie, und jemand anderes weinte.
Mühsam richtete er sich auf. Die Türen des Ofens waren verschwunden, und die Höhle hinter ihm war von Flammen und Rauch erfüllt. Die heiße Asche schwebte wie Glühwürmchen durch die Luft.
Der Sarg war verschwunden. Mutter war verschwunden.
Er hatte geglaubt, dass dies das letzte Verbrechen gegen sie gewesen sei, aber dann wurde in der Tribüne darüber berichtet, und im Bus auf seinem Weg zur Schule sah er zwei Frauen, die diese Seite der Zeitung lasen. Aufmerksam beobachtete er ihre Gesichter und wartete auf ihr Entsetzen.
Doch sie lachten.
Sie bedeckten ihre offenen Münder mit ihren Händen, rollten mit den Augen und schüttelten sich vor Vergnügen. Er starrte auf ihre Hässlichkeit und auf ihre Gemeinheit. Und dann erkannte er zum ersten Mal ganz deutlich, wie Recht Mutter gehabt hatte, ihn vor den Drachen zu warnen, die außerhalb ihrer Welt mitten unter uns lebten.
»Sie nehmen viele Formen an«, hatte sie gesagt.
Wie Recht sie hatte!
34. Kapitel
Montag, 25. Januar
M r. Hagen behauptete, dass es ihm gut genug gehe, um die Dokumente mit Joe und Howard Leary durchzusehen. Sein Krankenzimmer im Memorial Hospital, das acht Etagen über Schwartz’ Zimmer lag, war hell und wirkte mit seinen blühenden Pflanzen sehr freundlich. Hagen sah sehr viel besser aus als noch vor einer Woche.
»Morgen früh kann ich wieder nach Hause«, sagte er zu ihnen. »Der Arzt hat mich nur aufgenommen, weil ich auf der Straße zusammengebrochen bin, aber es war eigentlich nicht so schlimm, nur die Nachwirkungen dieser verdammten Grippe.«
»Durch dieses ganze Fiasko wird es auch nicht besser geworden sein«, sagte Leary.
»Sind Sie sicher, dass Sie dazu in der Lage sind?«, fragte Joe, der sich einen Stuhl ans Bett zog.
»Ihre Schwester und die anderen brauchen jede Hilfe, die sie bekommen
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