Und dann der Himmel
den Bergen gefahren, einem Touristenzentrum mit Weihnachtsgirlanden, Fußgängerzone und überteuerten Hotels. Nach einer halben Stunde Autofahrt hat er den Wagen auf einem Sammelparkplatz abgestellt und einen ausgeschilderten Wanderweg eingeschlagen, der gewöhnliche Ausflügler ohne allzu große Anstrengung an die Stellen mit den besten Panoramablicken führt. Trotzdem ist er nicht der erste Wanderer, der den schmalen Kletterpfad hinaufsteigt.
Er überholt eine kleine Gruppe sächselnder Studenten, die eine Ausrüstung mitschleppen, als wollten sie den Kilimandscharo besteigen, und die Seilbahn hoch über seinem Kopf befördert ebenfalls schon einige Frühaufsteher zur obersten Aussichtsplattform. Finn erinnert sich daran, dass vor einigen Jahren eine Bürgerinitiative nur mit Mühe das Ansinnen der Gemeinde abwehren konnte, die Anfahrtswege weiter auszubauen und zu asphaltieren, um noch mehr Fremdenverkehr in diese Gegend zu locken. Finn mag die Berge eigentlich nicht besonders, oft fühlt er sich von ihrer Größe und Allgegenwärtigkeit eingeengt und die Weite des Meeres lässt ihn leichter atmen, aber damals hat er doch eine Petition unterschrieben, hat sogar Flugblätter verteilt und sich diebisch gefreut, als die Pläne des Stadtrats in den Papierkorb wanderten. Das war lange, bevor er Marco kennen lernte.
Finn dreht sich um und vergewissert sich, dass ihn niemand beobachtet. Er will nicht aufgehalten werden. Dann verlässt er den Weg, zwängt sich zwischen dem Holzgeländer hindurch und schlägt sich am Hang entlang querfeldein in eine Gruppe dicht wachsender Tannen. Schnee, der wie frisch gestreuter Puderzucker aussieht, knirscht unter den Profilen seiner Schuhe. Finn klopft die Sohlen an einem Stein ab und atmet tief durch. Es wird noch eine Weile dauern, bis er das Ziel seiner Wanderung erreicht hat. Er versucht ein Lied zu pfeifen, um sich die Zeit zu vertreiben, aber seine Mundwinkel sind spröde und rissig von der Kälte; außerdem fallen ihm nur traurige Melodien ein.
Der Pfad, dem er folgt, ist eigentlich nur ein Wildwechsel, für das ungeübte Auge schwer zu entdecken. Finn jedoch erkennt im Schnee Spuren von Wildschweinen und Rehen, Losung von Kaninchen. Hinweise auf Menschen sind nicht zu sehen. Erneut dreht er sich um, aber er ist wirklich allein. Wenn er den Nadelbaumbestand hinter sich gelassen hat, wird er weitab von jeder menschlichen Behausung und den touristisch erschlossenen Gebieten sein. Finn kennt diese Ecke der Berge genau. Er war schon häufig hier auf der Suche nach Einsamkeit. Höchstens ein paar Vögel werden ihm zusehen können.
Am Rande des Waldes macht er eine Pause, dort, wo es rechter Hand ein wenig abschüssig wird. Er lehnt seinen Rücken an einen Baumstamm und setzt sich auf das erstaunlicherweise trockene Unterholz. Mittlerweile befindet er sich in ziemlich großer Höhe. Der Blick ins Tal ist wie jedes Mal ungewohnt, die Häuser und Autos erinnern Finn an das Legospielzeug, mit dem er sich als Kind die Zeit vertrieben hat, die Menschen auf den Straßen sind klein wie Ameisen. Alles um ihn herum ist friedlich und still; als er sein mitgebrachtes Sandwich auspackt, klingt das Knistern der Alufolie wie eine Ruhestörung.
Während er in das Brot beißt, denkt Finn an den Tag, an dem er Marco kennen gelernt hat. Fünf Monate ist es erst her; manchmal kommt es ihm vor wie eine halbe Ewigkeit und manchmal, als wäre es erst vor wenigen Tagen geschehen.
Er hatte ein verlängertes Wochenende eingelegt und sich spontan entschieden, nach Köln zu fahren, um etwas zu erleben. Die Baumschule, die er als Forstwirt zu überprüfen hatte, würde ihm nicht weglaufen. Stundenlang hatte er sich in der glühenden Julisonne durch die Stadt geschleppt und pflichtbewusst alle wichtigen Sehenswürdigkeiten abgeklappert: den Dom, das Rathaus, zwei Museen, sogar eine unterirdische Führung, bei der man versteckte Monumente der Römerzeit besichtigen konnte, hatte er sich angetan. Zumindest war es dort kühl gewesen, auch wenn er den altertümlichen Ruinen nicht viel abgewinnen konnte. Danach war er hungrig und durstig gewesen, und als er an einer Straßenecke ein Café mit einem Biergarten und bunten Lampions in den angrenzenden Bäumen entdeckte, hatte er sich zufrieden an einem der Tische in einen Stuhl fallen lassen.
Die Karte des Cafés war recht eigentümlich, denn neben den üblichen Speise- und Getränkeangeboten schien der Besitzer merkwürdigerweise auch Pflanzen und Blumen zum
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