Und dann der Himmel
nicht vom Weg abkommst, so wie ich. Er wird jeden deiner Schritte mit Argusaugen beobachten.“
Er nickt seinem Begleiter noch einmal zu. Dann breitet Finn seine Arme aus, holt tief Luft und stürzt sich in die Tiefe.
Rafael springt nach vorne und versucht, Finn zurückzuhalten, aber er kommt zu spät. Seine Hand greift ins Leere. „Man fliegt nicht wie ein Vogel, man fällt wie ein Stein“, murmelt er nach einer Weile und wendet sich enttäuscht ab. Doch kurz darauf hellt sich sein Gesicht auf. „Fast hätte ich ihn so weit gehabt“, sagt er zu niemandem im Besonderen. „Ich werde gewinnen, warte es ab!“
„Wirst du nicht!“ sage ich erbost und wache mit einem Ruck auf. Meine Schultern schmerzen; ich habe gar nicht gemerkt, dass ich eingenickt bin. „Ich lasse mich nicht von dir manipulieren, schon gar nicht meine Träume. Du glaubst wohl, du kannst dir alles erlauben, nur weil du … von oben kommst.“
Rafael hat nur ein spöttisches Lächeln für mich übrig. Sein Blick ist weiterhin auf die Fahrbahn gerichtet, die sich wie eine endlose, dunkelgraue Schleife durch die Landschaft windet.
Ein merkwürdiges Gefühl beschleicht mich: Ich spüre, dass Rafael dabei ist, die Rollen in unserer Beziehung – oder wie immer man es auch nennen will, was uns verbindet – neu zu gewichten. Anfangs war er auf meine Unterstützung angewiesen. Er hat Chaos gestiftet und ich habe den Schlamassel beseitigt. Im Fall von Adolf muss ich sogar damit leben. Das war zwar nervig, aber irgendwie auch rührend und es hat sogar Spaß gemacht, mich kümmern zu müssen. Es war sozusagen mein Territorium, auf dem ich mich ausgekannt und sicher gefühlt habe. Aber seit wir beschlossen haben, in Urlaub zu fahren – seitdem ich mich dazu habe breitschlagen lassen –, übernimmt er immer deutlicher die Führung. Er sitzt am Steuer des Wagens, er entscheidet, wohin wir fahren, er beeinflusst mein Denken und sogar mein Unterbewusstsein. Ich dagegen falle in eine immer passivere, abwartendere Rolle zurück. Der Grund dafür ist vielleicht, dass ich Rafael in emotionaler Hinsicht zurzeit unterlegen bin, denn während ich mich in ihn verliebt habe, scheint er das, was sich zwischen uns abspielt, nicht ernst zu nehmen. Das verschafft ihm einen taktischen Vorteil.
Prinzipiell habe ich auch nichts gegen diesen Rollentausch. Ich stelle gerade fest, dass es recht bequem sein kann, sich treiben zu lassen. Allerdings passt es mir nicht, dass Rafael glaubt, er könnte sich anmaßen, moralische Urteile über das zu fällen, was ich denke und fühle. Ich kann es nicht leiden, wenn man mich kritisiert und dann auch noch erziehen will. Gerade in Bezug auf Finn hat Rafael kein Recht, mir Vorhaltungen zu machen. Finn hat es nicht anders verdient.
„Was willst du eigentlich bezwecken? Du kannst nicht einfach daherkommen, mein Unterbewusstsein aufmischen und dann mit meinem Ex-Mann ein nettes, kleines Pläuschchen abhalten“, platzt es schließlich aus mir heraus. Je länger ich darüber nachdenke, desto empörter bin ich. „Was du tust, grenzt an … an psychische Vergewaltigung!“ Ich plustere mich rechtschaffen auf und übertreibe ein wenig, um meinem Ärger Luft zu machen. „Zumindest ist es ein Eingriff in meine Privatsphäre“, schwäche ich dann ab. Irgendwie habe ich ja doch ein schlechtes Gewissen.
„Ich will, dass du etwas lernst“, wiederholt Rafael einen früheren Satz.
„Ha! Ich muss nichts lernen, ich habe keinen Fehler gemacht!“
„Wer seine Fehler nicht erkennt, kann sie nicht verbessern!“ sagt Rafael mit erhobenem Zeigefinger. „Noch eins von diesen unglaublichen Sprichwörtern. Toll, nicht? Es gibt immer eines, das passt.“
„Kenne ich nicht“, erwidere ich mürrisch. „Und was willst du mir damit sagen?“
„Glaubst du eigentlich, dass es in anderen Beziehungen niemals Probleme gibt?“ fragt Rafael plötzlich, als hätte er meine Frage nicht gehört.
„Lenk jetzt nicht vom Thema ab“, erwidere ich.
„Das tue ich gar nicht!“ sagt Rafael. Dabei verringert er die Geschwindigkeit und setzt den Blinker. Beiläufig bemerke ich, dass wir uns auf einem Autobahnkreuz befinden. Rafael wechselt die Fahrspur und schlägt einen Weg nach Norden ein, als wüsste er genau, wohin er will.
Ich lasse mir seine Frage einen Moment durch den Kopf gehen. „Ich bin mir sicher, dass meine Schwester Sabine zum Beispiel nie solche Schwierigkeiten hat“, erkläre ich schließlich mit einem schnippischen Unterton. „Bei der
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