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Und dann gabs keines mehr

Und dann gabs keines mehr

Titel: Und dann gabs keines mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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ihren Stuhl um die Ecke des Hauses getragen, um aus dem Wind zu sein. Da saß sie und strickte.
    Jedes Mal, wenn Vera an sie dachte, war ihr, als sähe sie das bleiche Gesicht einer Ertrunkenen, mit Seetang, der sich in ihren Haaren verfing… ein Gesicht, das früher einmal hübsch gewesen war – unverschämt hübsch vielleicht – und das jetzt jenseits von Mitleid und Furcht war.
    Und Emily Brent saß seelenruhig und selbstgerecht da und strickte.
    Auf der Hauptterrasse saß Richter Wargrave zusammengesunken in seinem Sessel, den Kopf tief zwischen den hochgezogenen Schultern.
    Als Vera ihn anschaute, sah sie einen Mann im Zeugenstand – einen jungen Mann mit blonden Haaren und blauen Augen und einem verwirrten, verängstigten Gesicht. Edward Seton. Und in ihrer Vorstellung sah sie, wie die alten Hände des Richters das schwarze Barett auf den Kopf setzten und wie er begann, das Urteil zu verlesen…
    Vera wanderte langsam zum Meer hinunter. Sie lief bis zum äußersten Ende der Insel, wo ein alter Mann saß und zum Horizont starrte.
    General MacArthur regte sich, als sie näher kam. (Er wandte den Kopf – eine seltsame Mischung aus Fragen und Angst lag in seinem Blick. Es erschreckte sie. Er sah sie eine Weile aufmerksam an.
    «Wie seltsam!», dachte sie. «Es ist fast, als ob er wüsste…»
    Er sagte: «Ah, Sie sind das. Sie sind gekommen…»
    Vera setzte sich neben ihn.
    «Sitzen Sie gerne hier und schauen hinaus aufs Meer?»
    Er nickte leicht mit dem Kopf.
    «Ja», bestätigte er. «Es ist angenehm. Es ist, glaube ich, ein guter Platz, um zu warten.»
    «Zu warten?», fragte Vera scharf. «Worauf warten Sie?»
    «Auf das Ende», sagte er sanft. «Aber ich denke, das wissen Sie, oder? Es ist doch so. Wir warten alle auf das Ende.»
    «Wie meinen Sie das?», fragte sie mit zittriger Stimme.
    «Niemand von uns wird diese Insel wieder verlassen», verkündete General MacArthur. «Das ist der Plan. Sie wissen das natürlich. Bestimmt. Was Sie vielleicht nicht verstehen können, ist die Erleichterung!»
    «Die Erleichterung?», fragte Vera verblüfft.
    «Ja. Natürlich. Sie sind noch sehr jung», sagte er. «An diesen Punkt sind Sie noch nicht gekommen. Aber sie kommt, bestimmt. Die Erlösung, wenn Sie wissen, Sie haben mit all dem abgeschlossen – Sie müssen die Last nicht länger tragen. Eines Tages werden Sie das Gleiche fühlen…»
    Vera antwortete mit rauer Stimme: «Ich verstehe Sie nicht.»
    Ihre Finger verkrampften sich. Plötzlich überfiel sie die Angst. Angst vor diesem ruhigen, alten Soldaten.
    «Wissen Sie, ich habe Leslie geliebt. Sehr geliebt…», sagte er nachdenklich.
    «War Leslie Ihre Frau?», fragte Vera.
    «Ja, meine Ehefrau… Ich habe sie sehr geliebt – und ich war stolz auf sie. Sie war so hübsch und so fröhlich.»
    Er war einen Moment lang still, dann fuhr er fort: «Ja, ich habe Leslie geliebt. Deshalb habe ich es getan.»
    «Sie meinen –», fragte Vera und verstummte.
    General MacArthur nickte leicht mit dem Kopf.
    «Es führt zu nichts, jetzt noch zu leugnen – nicht, wenn wir alle sterben werden. Ich habe Richmond in den Tod geschickt. Auf eine Art war es Mord. Seltsam. Ich, ein Mörder – ich bin immer so ein gesetzestreuer Mensch gewesen! Aber damals habe ich das nicht so gesehen. Ich hatte keine Bedenken. ‹Geschieht ihm recht, verdammt noch mal› – das habe ich damals gedacht. Aber hinterher – »
    Mit harter Stimme fragte Vera: «Was war hinterher?»
    Er schüttelte sacht den Kopf und sah verwirrt und ein wenig gequält aus.
    «Ich weiß nicht. Ich – weiß nicht. Es war alles anders, verstehen Sie. Ich weiß nicht, ob Leslie je etwas vermutet hat – ich glaube nicht. Aber wissen Sie, ich habe mich mit ihr nicht mehr ausgekannt. Sie war weit weggegangen, dorthin, wo ich sie nicht erreichen konnte. Und dann starb sie – und ich war allein…»
    «Allein», wiederholte Vera. «Allein», schallte das Echo ihrer Stimme vom Felsen zu ihr zurück.
    «Sie werden ebenfalls froh sein, wenn das Ende kommt», sagte General MacArthur.
    Vera stand auf.
    «Keine Ahnung, wovon Sie reden!»
    «Ich weiß, mein Kind», sagte er. «Ich weiß…»
    «Nein, das tun Sie nicht. Sie verstehen überhaupt nichts…»
    General MacArthur sah wieder auf das Meer hinaus. Es war, als hätte er vergessen, dass sie hinter ihm stand.
    Sehr sanft und sehr leise sagte er:
    «Leslie…?»
     

V
     
    Als Blore mit dem aufgerollten Seil über dem Arm aus dem Haus zurückkehrte, fand er

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