Und dann gabs keines mehr
Armstrong ausweichend. «Bei einem jungen, gesunden Menschen ohne Herzschwäche – ziemlich unwahrscheinlich. Andererseits…»
Armstrong nahm das Glas mit dem Brandy, das Blore gebracht hatte, in die Hand. Er tauchte einen Finger hinein und kostete vorsichtig. Sein Gesicht veränderte sich nicht. «Schmeckt ganz normal», sagte er unschlüssig.
Wütend trat Blore vor: «Wenn Sie jetzt sagen, ich hätte da etwas reingetan, schlage ich Ihnen Ihren gottverdammten Schädel ein.»
Vera, deren Lebensgeister durch den Brandy wieder erwachten, lenkte von dem heiklen Thema ab und fragte: «Wo ist eigentlich der Richter?»
Die drei Männer sahen sich an.
«Sonderbar… Dachte, er war mit uns hier hochgekommen.»
«Ich auch», sagte Blore. «Sie waren doch auf der Treppe direkt hinter mir, Doktor, oder?»
«Ich dachte, er käme hinter mir… », sagte Armstrong. «Etwas langsamer natürlich, er ist ja ein alter Herr.»
Wieder sahen sie sich an.
«Verdammt komisch…», sagte Lombard.
«Wir müssen ihn suchen», trompetete Blore.
Er lief zur Tür, die anderen folgten ihm. Vera ging als Letzte.
Als sie die Treppe hinunterstiegen, sagte Armstrong über die Schulter: «Er könnte natürlich auch im Salon geblieben sein.»
Sie liefen durch die Eingangshalle. Armstrong rief laut: «Wargrave, Wargrave, wo sind Sie?»
Es kam keine Antwort. Bis auf das leise Rauschen des Regens war es totenstill im Haus.
Am Eingang zum Salon blieb Armstrong plötzlich abrupt stehen. Die anderen versammelten sich um ihn und schauten ihm über die Schulter.
Jemand schrie auf.
Richter Wargrave saß in seinem Lehnstuhl im hinteren Teil des Salons. Rechts und links von ihm brannten zwei Kerzen. Was die Zuschauer jedoch am meisten entsetzte und schockierte, war seine Aufmachung. Er saß da, in scharlachrotes Tuch gehüllt, mit einer Richterperücke auf dem Kopf…
Dr. Armstrong gab den anderen zu verstehen, sie sollten zurückbleiben. Er selbst ging zu der stummen, starr blickenden Gestalt hinüber und schwankte beim Gehen fast ein wenig wie ein Betrunkener.
Er beugte sich vor und blickte in das starre Gesicht. Dann hob er mit einer raschen Bewegung die Perücke hoch. Sie fiel zu Boden und entblößte die hohe, kahle Stirn. Genau in der Mitte befand sich ein rundes, verschmiertes Mal, aus dem etwas he rausgesickert war.
Dr. Armstrong ergriff die leblose Hand und fühlte nach dem Puls. Dann wandte er sich den anderen zu.
«Er wurde erschossen…»
Seine Stimme klang ausdruckslos, tot – wie aus weiter Ferne.
«Verflucht – der Revolver!», schnaubte Blore.
Armstrong sagte mit der gleichen, leblosen Stimme: «Hat ihn am Kopf erwischt. War sofort tot.»
Vera bückte sich, hob die Perücke auf. «Miss Brents graue Wolle. Und sie hat danach gesucht… » Ihre Stimme zitterte vor Entsetzen.
«Und der rote Vorhang aus dem Badezimmer… », knurrte Blore.
«Dafür wurden sie also gebraucht…», flüsterte Vera.
Plötzlich brach Philip Lombard in Gelächter aus – ein hohes, unnatürliches Lachen.
«Fünf kleine Negerlein, die stritten sich ums Bier. Eins holte sich der Scharfrichter, da waren’s nur noch vier. Das ist also das Ende von Scharfrichter Wargrave. Keine Urteilssprüche mehr! Kein schwarzes Barett! Hier sitzt er zum letzten Mal zu Gericht! Keine Plädoyers mehr, keine Todesurteile für Unschuldige. Edward Seton würde ein Freudengeheul anstimmen, wenn er hier wäre! Der würde sich totlachen!»
Sein Ausbruch entsetzte und verblüffte die anderen.
«Heute Morgen haben Sie noch behauptet, er wäre der, den wir suchen!», empörte sich Vera.
Philip Lombard hatte sich wieder beruhigt.
«Ich weiß, das habe ich gesagt», gab er mit leiser Stimme zu. «Ich habe mich geirrt. Jetzt gibt es einen mehr, dessen Unschuld bewiesen ist – wieder zu spät!»
Vierzehntes Kapitel
I
S ie hatten Richter Wargrave in sein Zimmer hinaufgetragen und aufs Bett gelegt.
Dann waren sie wieder hinuntergegangen. Nun standen sie in der Eingangshalle und sahen einander an.
«Was machen wir jetzt?», fragte Blore düster.
«Erst einmal essen», sagte Lombard munter. «Wir müssen essen, so ist das nun mal!»
Wieder gingen sie in die Küche. Und wieder öffneten sie eine Dose mit Zunge. Alle aßen mechanisch, ohne viel zu schmecken.
«Ich esse nie wieder Zunge», stöhnte Vera.
Sie hatten das Mahl beendet. Sich gegenseitig beobachtend, saßen sie um den Küchentisch.
«Jetzt sind wir nur noch zu viert», sagte Blore. «Wer wird der
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