Und dann kusste er mich
hatte.
»Schätzchen, es ist so weit! Baz hat mich heute Abend angerufen, um mir zu sagen, dass er von dir und deinem Knaben eine Standaufnahme hat! Er bringt sie morgen Nachmittag zum Boot, also setz dich in Bewegung, so schnell du kannst! Es könnte der Durchbruch sein, auf den wir gewartet haben und …« Er brach ab, und im Hintergrund war gedämpft Tante Mags’ Stimme zu hören. »Ja … Ich weiß, das habe ich gesagt, Magsie … Was? Gut, gut. Entschuldige, Rom. Deine Tante sagt, sie habe heute ein neues Rezept ausprobiert, und das sei genau der Kuchen, den du brauchst, wenn du dir das Foto ansiehst. Also, wo bleiben die Jubelschreie?«
»Alles okay?«, fragte Charlie plötzlich von der Tür aus.
Ich spürte ein seltsames Flattern in der Magengrube. »Ja, alles bestens.«
Er sah mich an, und einen Moment lang dachte ich, er würde noch etwas sagen, doch er nickte nur und ging weg. Ich war mir nicht sicher, ob ich darüber erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Die Tatsache, dass ich ihm nichts von dieser unglaublichen Neuigkeit erzählte, zeigte mir wieder einmal, wie sehr sich unser Verhältnis verändert hatte. Doch damit konnte ich mich jetzt nicht befassen: Onkel Dudleys Neuigkeiten waren viel zu aufregend, um sie zu ignorieren.
Wieder allein in dem dunklen holzvertäfelten Raum, ließ ich mich auf der Eichenholzbank nieder, die an drei der vier Wände entlangverlief. Ich konnte es kaum fassen. Endlich würde ich ihn wiedersehen – nicht nur flüchtig wie am Valentinstag, sondern in Form eines richtigen Bildes, das mit der Zeit auch nicht verblassen würde.
In den letzten Wochen war so vieles geschehen, das sich nun auf sinnvolle Weise ineinanderfügte: der kurze Blick auf den Fremden am Valentinstag, die wachsende Unterstützung für meine Suche, die Was-wäre-wenn-Geschichten von Sophie und ihren Kolleginnen. War das nicht alles eine Bestätigung dafür, dass ich auf dem richtigen Weg war?
Es gab nur eine Möglichkeit, diese Theorie zu testen: Ich musste mir das Foto ansehen.
An die Fahrradfahrt am nächsten Tag rüber nach Kingsbury konnte ich mich kaum erinnern. Unzählige Gedanken schwirrten mir durch den Kopf, kämpften drängelnd um einen guten Platz wie Pendler in überfüllten Morgenzügen. Zunächst war ich versucht gewesen, von zu Hause mit dem Zug direkt zum Boot weiterzufahren, doch aus Pflichtgefühl gegenüber meinen Eltern und aus schlechtem Gewissen, weil ich seit zwei Wochen keine anständige Radtour mehr gemacht hatte, fuhr ich mit dem Rad als Erstes zum sonntäglichen Mittagessen ins beigefarbene Königreich.
Zum Glück hatten meine Eltern keine Ahnung von meinem Blog und Onkel Dudleys Ein-Mann-Mission. Und das würde in absehbarer Zeit auch so bleiben, da Mum und Dad (die ihren altertümlichen PC nur für die Ausarbeitung ihrer Tabellenkalkulationen benutzten und nie auf die Idee kämen, etwas zu googeln) entschieden gegen jede Form von »Social Media« waren.
Es bereitete mir eine diebische Freude, eine unartige Tochter zu sein, die ihren Eltern etwas verheimlichte. Natürlich berichtete ich meinen Eltern immer von den neusten Entwicklungen in meinem Leben, aber nicht unbedingt sofort …
Als ich die Kanalbrücke überquerte und auf den Treidelpfad einbog, zitterte ich innerlich vor Anspannung, und mein Magen verkrampfte sich zu einem eisigen Klumpen, da nun der Augenblick der Wahrheit unaufhaltsam näherrückte. Ich klopfte an die Bugklappe von Our Pol , hievte mein Fahrrad auf das Kanalbootdach, zog die Handschuhe aus, nahm den Fahrradhelm ab und trat ein.
Sollte jemals ein Oscar für die »unglaubwürdigste Darstellung von Gelassenheit« verliehen werden, wären meine Tante und mein Onkel die Ehrengäste auf Elton Johns Gewinner-Aftershow-Party. Sie saßen beide stock steif neben der Küchenspüle, ein identisches festgefrorenes Grinsen im Gesicht.
»Eine Tasse Tee?«, fragte Tante Mags mit gepresster, fast quietschiger Stimme, während sie gegen die Aufregung ankämpfte, die ihre gesamte Körpersprache jedoch unmissverständlich verriet.
Ich bemühte mich, so ruhig wie möglich zu bleiben. »Ja, gern. Das ist nach der Fahrradtour genau das Richtige. Geht es dir gut, Onkel Dudley?«
Mein Onkel war sogar noch schlimmer. Er vibrierte wie eine Sprungfeder, die jeden Moment in die Höhe schnellen würde. »Alles in Ordnung, Schätzchen, ganz wunderbar.«
»Geduld ist nicht unbedingt eure Stärke, was?«, bemerkte ich amüsiert, als meine Tante und mein Onkel
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