Und dennoch ist es Liebe
werden, die mit den Wänden des Hauses verschmolz, das sie definierte. Und so flog sie am Tag ihres Abschlusses in Vassar nach Rom, ohne einer Menschenseele etwas davon zu sagen. Dort betrank sie sich und tanzte um Mitternacht im Trevibrunnen, und sie schlief mit so vielen dunkelhaarigen Männern, wie sie konnte, bis ihre Kreditkarte gesperrt wurde. Als sie Monate später Robert Prescott auf einer Parkplatz-Party vorgestellt wurde, hätte sie ihn fast als einen dieser reichen, verwöhnten Bengel abgetan, mit denen ihre Eltern sie immer zusammenbringen wollten. Doch als sich ihre Blicke bei einem Glas gewürztem Cidre trafen, erkannte sie, dass Robert nicht das war, was er zu sein schien. Unterschwellig kochte auch ihm das Blut von dem Verlangen nach Flucht, das Astrid nur allzu gut von sich selbst kannte. Hier war ihr Spiegelbild – jemand, der genauso verzweifelt hinein wollte wie sie hinaus.
Robert Prescott war ohne einen Cent geboren und offensichtlich auch ohne Vater. Er hatte Zeitschriften an der Tür verkauft, um sein Harvardstudium zu finanzieren. Und jetzt, dreißig Jahre später, besaß er ein solches Vermögen, dass niemand mehr zu fragen wagte, ob es nun altes oder neues Geld war. Er liebte den Status, den er sich erworben hatte, und er liebte es, seinen glänzenden, neu erworbenen Besitz neben Astrids Sammelsurium von sieben Generationen alten Antiquitäten zu sehen. Und Robert kannte die Rolle genau, die er spielen musste: Er musste auf Dinnerpartys mürrisch und gelangweilt dreinblicken, Portwein schlürfen und jene Teile seines Lebens systematisch ausblenden, die ihn in Verlegenheit bringen konnten.
Einmal hatte es einen erbitterten Streit gegeben, als Nicholas’ Vater darauf bestanden hatte, sein Sohn solle etwas tun, was der ums Verrecken nicht tun wollte – die eigentlichen Umstände des Streits hatten beide inzwischen vergessen. Vermutlich ging es darum, irgendjemandes Schwester zu einem Debütantinnenball zu begleiten oder ein fürs Wochenende geplantes Baseballspiel in der Nachbarschaft abzusagen, um stattdessen in die Tanzschule zu gehen. Nicholas war unnachgiebig geblieben und fest davon überzeugt, dass sein Vater ihn schlagen würde, doch zum Schluss hatte Robert sich nur besiegt auf seinen Sessel fallen lassen und sich die Nase gerieben. »Nicholas«, sagte er und seufzte, »du würdest dich an die Regeln halten, wenn dir klar wäre, was du dabei verlieren kannst.«
Nun, da er älter war, verstand Nicholas, was sein Vater damit gemeint hatte. Und um die Wahrheit zu sagen, egal wie oft er auch darüber fantasierte, das Leben eines einfachen Hummerfischers in Maine zu leben, er genoss die Vorteile seiner gesellschaftlichen Stellung viel zu sehr, als dass er sie einfach aufgegeben hätte. Es gefiel ihm, den Gouverneur mit Vornamen anreden zu dürfen, es gefiel ihm, wenn Debütantinnen ihre Spitzen-BHs auf dem Rücksitz seines Wagens vergaßen, und es gefiel ihm, am College und am medizinischen Seminar zugelassen worden zu sein, ohne auch nur eine halbe Sekunde lang an sich selbst oder seinen Chancen gezweifelt zu haben. Was nun Paige betraf, so mochte sie ja nicht genauso aufgewachsen sein wie Nicholas’ Eltern, aber dennoch hatte auch sie etwas zurückgelassen. Sie war voller Gegensätze. So zerbrechlich sie nach außen hin auch erschien, sie besaß genug Selbstvertrauen, um mit ihrer Vergangenheit zu brechen. Und Nicholas musste erkennen, dass er im ganzen Leib weniger Mut hatte als Paige im kleinen Finger.
Paige schaute wieder von dem Anatomiebuch auf. »Wenn ich dich abfragen würde, würdest du dann alles wissen? Jede Kleinigkeit?«
Nicholas lachte. »Ja und nein. Das hängt davon ab, was du mich fragen würdest.« Er beugte sich vor. »Aber sag das niemandem, sonst werde ich meine Approbation nie bekommen.«
Paige setzte sich in den Schneidersitz. »Nehmen wir doch einfach mal meine Krankengeschichte«, schlug sie vor. »Das ist doch sicher eine gute Übung, oder? Würde dir das nicht helfen?«
Nicholas stöhnte. »Das mache ich gut hundertmal am Tag«, sagte er. »Das kann ich im Schlaf.« Er rollte sich auf den Rücken. »Name? Alter? Geburtsdatum? Geburtsort? Rauchen Sie? Treiben Sie Sport? Und wenn ja, welchen? Haben Sie oder jemand in Ihrer Familie Herzkrankheiten, Diabetes, Brustkrebs? Haben Sie oder jemand in Ihrer Familie …?« Er ließ den Satz unvollendet, rutschte von der Couch und hockte sich neben Paige. Sie schaute auf ihre Hände. »Dann haben wir wohl ein
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