Und der Wind bringt den Regen
Alice sprachlos an. Sie lächelte kühl und sagte: «Neue Idee. Vorbeugende Therapie heißt das bei uns.»
Er starrte sie noch immer an. Dann flüsterte er: «Was fällt dir ein? Wie kannst du es wagen -»
«Was hab ich denn nun wieder getan?» fragte sie achselzuckend. «Hab ich deinen männlichen Stolz verletzt?»
«Verstehst du denn gar nicht?» fragte er zornbebend. «Das war eine Sache zwischen denen und mir. Ich mußte es durchstehen -und zwar allein.»
«Du bist verrückt», sagte sie verächtlich.
«Laß mich raus.» Er versuchte, an die Tür zu kommen.
«Wenn du dich nicht vernünftig benimmst, übergebe ich dich Schwester Lisa.» Alice und die Schwester lächelten sich zu.
«Dir macht das wohl Spaß, was?» fragte Frank.
«Na und wie!»
Der Wagen hielt. Schwester Lisa öffnete die Türen, und Frank sprang hinaus. Er stand vor seinem Haus. Einen Augenblick blieb er unentschlossen stehen, dann steckte er den Kopf in den Wagen und sagte, ohne eine Miene zu verziehen: «Danke, Alice.»
«Schon gut», sagte sie und nickte ihm mit einem kühlen Lächeln zu.
Eine Schwester meldete Alice am nächsten Tag, daß ein Besucher auf sie warte. Sie ging in ihr Büro und stand Frank gegenüber.
«Ich wollte mich bei dir entschuldigen», sagte er mit gerunzelter Stirn.
«Wieso?» sagte sie und ließ sich in ihren Drehstuhl fallen. «Lebensrettung gehört zu meinen Aufgaben. Kommt allerdings selten vor, daß sich einer bedankt.»
«Es war tapfer von dir, und gut geplant. Ich weiß bloß nicht, warum du das für mich getan hast.»
«Ich hab’s nicht für dich getan», sagte sie schnell, «sondern gegen die. Aber warum warst du so böse?»
«Weil du dich eingemischt hast - in einen privaten Krieg», sagte er eigensinnig.
«Eingemischt!» fuhr sie auf. «Glaubst du, du bist der einzige, der solche Banditen und ihre Ziele verabscheut?»
«Nein, sicher nicht», sagte er zögernd. «Aber ich hatte noch einen anderen, einen persönlichen Grund.»
Sie wartete. Er sagte halblaut: «Meine Mutter —» Dann verstummte er. Es war, als hätte er ganz vergessen, daß er ihr gegenübersaß.
«Deine Mutter?» fragte sie behutsam.
«Sie war Jüdin.»
Eine Weile schwiegen sie beide. Dann sagte sie: «Ja. Ich verstehe.»
«In Polen. Als sie siebzehn war, kam es zu Pogromen. Sie hat viel durchgemacht. Aber dann kam sie nach England. Sie hat Glück gehabt.»
Wieder schwiegen sie.
«Das hast du mir nie erzählt, damals —»
«Hätte es etwas geändert?»
«Nein, nichts», sagte sie.
«Ich habe immer gedacht, das sei alles längst vorbei. Und nun haben diese Scheusale es alles wieder lebendig gemacht.»
Sie blickte ihn traurig an, und jetzt sah sie nicht nur die feinen Linien in seinen Wangen, das Grau in seinem Haar, sie begriff plötzlich, daß er anders war, empfindlich und einsam. Sie sah den Jahrelangen Schmerz in seinen Augen. «Ja», sagte sie, «ich verstehe. Es ist ein privater Krieg. Aber allein kannst du ihn nicht ausfechten.»
«Ich muß.» Und dann, sehr ernst: «Mich treibt ein glühender Zorn, Alice.»
Sie sah ihn verwundert an. «Und ich habe dich immer für kalt und gefühllos gehalten.»
«Das freut mich.» Mit einem winzigen Lächeln neigte er den Kopf. «Wir Juden», sagte er, «haben im Laufe der Jahrhunderte gelernt, unsere Gefühle zu verbergen.»
Wieder schwiegen sie. Dann fand Alice in ihren alten Ton zurück. «Hör zu, Frank. Es hat mich bewegt, was du gesagt hast. Und das geschieht nicht oft. Aber ich sage dir noch einmal, du kannst diesen Kampf nicht allein kämpfen. Es nützt alles nichts, du mußt schweigen.»
Er stand auf. Und plötzlich sah er frischer und unbekümmerter aus, als sie ihn je gesehen hatte. «Wenn sie mich umbringen, mußt du dafür sorgen, daß alle es erfahren. Alle müssen es wissen, daß die britische Faschistenunion einen englischen Juden ermordet hat. Das wird sie in England nicht gerade beliebter machen.»
Sie streckte die Hand aus. «Leb wohl, Frank. Sei trotzdem vorsichtig.» Er gab ihr die Hand. Sie beugte sich vor, lächelte ein wenig und küßte ihn leicht auf den Mund.
24
Am 15. März 1939 marschierte Hitler in Prag ein.
Dieser Schritt hatte in England eine außerordentliche Wirkung. Bis jetzt hatten die Engländer vor einem Krieg die größte Angst gehabt. Jetzt erschien ihnen Hitler schlimmer als ein Krieg. Die fast hysterische Euphorie nach dem Münchener Abkommen wurde zu einer Erinnerung, an die man nicht gern dachte. Es kam zu
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