Und der Wind bringt den Regen
zärtlich an. «Hättest du nicht auch gern einen neuen Papa, mein Liebling?» fragte sie leise, überwältigt von Liebe und Wärme für das kleine Menschenwesen, den Miniatur-Tom, der einmal ein Stück von ihr selbst gewesen war, bis er laut schreiend von ihr getrennt wurde. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er seine eigenen Wege ging - zur Schule, zur Arbeit, zu Mädchen, die jünger und hübscher waren als seine Mutter. Sie lag quer über dem Bett und hielt die Decke, unter der Benbow lag, fest in den Armen. Immer wieder küßte sie seine Wangen, seine Lippen, und murmelte zärtliche Koseworte. Benbow ließ alles über sich ergehen.
Schließlich richtete Nell sich auf. Ihr war seltsam zumute — sie verstand sich selber nicht recht. Das ungewohnte Bier und der Whisky, das Ende des Krieges, der ihr alles genommen hatte, das Tanzen, das sie so liebte und Jahrelang entbehrt hatte, und das Bewußtsein, daß sie einen Mann heiraten wollte, der trotz mancher Fehler Charme besaß - all das brachte ihre Gefühle so durcheinander, daß sie hätte lachen und weinen mögen, und zugleich die ganze Welt umarmen, nicht nur Benbow und Taffy, sondern wirklich die ganze Welt - sogar Oma und Opa Dorman.
Es ging nicht nur Nell so an diesem 11. November 1918. In vielen Häusern in Deutschland herrschte Verzweiflung und Reue und unendliche Erleichterung; in Frankreich mischte sich Bitterkeit in den Jubel und Haß für den geschlagenen Feind. In England wurden Freudenfeuer angezündet und auf den Bergen Leuchtsignale; man trauerte um die Toten und hatte sogar Mitleid mit dem einst hochgeachteten und nun gedemütigten Gegner. In Whitehall war man froh, daß dieser Krieg zu Ende war und man sich anderen Aufgaben zuwenden konnte. Im Hause Downing Street 10 saßen zwei kluge Männer zusammen, Winston Churchill und Lloyd George, die beide der Meinung waren, man könne bei der Neuordnung Europas ein Volk, das sich wacker gegen drei Viertel der Welt geschlagen hatte, nicht einfach übergehen. Auch hier sprach zweifellos Gefühl mit. Die beiden waren schon mit Plänen beschäftigt, wie man auf dem zerschlagenen Kontinent das Gleichgewicht der Kräfte wiederherstellen konnte.
Noch ein anderer Mann muß hier erwähnt werden: ein blasser unauffälliger Mann im Schlamm der Westfront, der schon jetzt die Niederlage und Bitterkeit, den Haß und den Wunsch nach Rache des ganzen deutschen Volkes auf sich nahm. Der Gefreite Adolf Hitler machte sich bereit zur Vergeltung.
Alice hatte mehr als recht gehabt: Taffy Evans war ein durchschlagender Erfolg im Hause Dorman.
Er machte seine Sache gut, was sonst selten vorkam. Er war unsicher wie immer, aber er versuchte es nicht durch Aufschneiderei zu kaschieren. Bei seinem ersten Besuch begrüßte er Oma Dorman etwa so, wie Disraeli Queen Victoria begrüßt hatte: ernst und höflich und voller Bewunderung. Und Opa nahm er völlig den Wind aus den Segeln, als er sagte: «Ich glaube, Sie haben damals an die Bahn geschrieben, Sir - weil ich an dem Abend mit Nell - naja. Sie hatten natürlich vollkommen recht; jeder Steuerzahler hätte das getan. Es war ja schließlich noch Krieg.»
«Ja, ich... äh...» sagte Opa - eine etwas magere Antwort für jemanden, der mit so wenigen Worten Opas schlechtes Gewissen beruhigt hatte. George, der bisher im Geschäft geholfen hatte, war sehr froh, als er Leim und Leisten an Taffy übergeben konnte. Bald wurde Taffy der Laden auch mal allein überlassen, wenn der alte Mann nachmittags sein Nickerchen machte. Und Taffy bewährte sich. Er hockte nicht im Hinterzimmer, sondern stand an der Ladentür, lächelte den Vorübergehenden etwas unsicher zu, grüßte höflich, verbeugte sich vor älteren Damen und sah den hübschen Jüngeren mit begehrlichen Blicken nach. Zu den Kecken sagte er auch manchmal: «Junge Frau, ich hab genau den richtigen Stuhl für Ihren hübschen kleinen Allerwertesten - wollen Sie ihn sich nicht mal ansehen? Ist auch gar nicht teuer.» Dann gingen sie erst lachend weiter, kehrten aber oft wieder um, weil die schwarzen Männeraugen sie so bewundernd angesehen hatten, und kauften tatsächlich etwas.
Eines Tages kam Taffy zu Nell und sagte: «Komm mal mit in die Werkstatt, Liebchen.» Überrascht ließ sie sich von ihm durch den Laden und das kleine Hinterzimmer fuhren, wo der alte Mann grunzend aufblickte, und stieg hinter ihm nach oben in die Werkstatt. Nell erkannte sie kaum wieder. Georges Durcheinander aus Stoffresten und Abfällen und
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