Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und der Wind bringt den Regen

Und der Wind bringt den Regen

Titel: Und der Wind bringt den Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Malpass
Vom Netzwerk:
stille Hügel, schweigende Wiesen und Hügel, weich und rund wie die Brüste einer Frau. Und am Ende der Reise stand, wenn er viel Glück hatte, Alice. Sie würde ihm entgegenlaufen, sich ihm in die Arme werfen und lachen... Nicht das harte bittere Lachen der Männer im Krieg, sondern das helle frohe Lachen einer Frau.
    Jetzt sah man draußen einzelne Lichter, hell erleuchtete Fenster,; die sich näher an die Bahn drängten. Dann mehrten sie sich, waren schließlich überall, bis zum Horizont, eine weite helle Ebene. Frank merkte, wie die Bremsen anzogen und wieder losließen; langsam, langsam schob sich der Zug in eine riesige, überdachte Halle. Ein Schild glitt vorbei: «Victoria.» Eine Männerstimme rief laut: «Victoria - London - Victoria Station.» Frank stand am Fenster und spähte nach draußen. Der Bahnsteig war menschenleer. Ja natürlich, fiel ihm ein, sie ließen ja niemand durch die Sperren. Der Zug kroch noch etwas weiter. «London - Victoria!» rief der Bahnbeamte. Nach Hause, nach Hause! Der Zug blieb mit gewaltigem Zischen stehen. Frank packte seinen Koffer und sprang auf den Bahnsteig.
    Mit langsamen Schritten ging er am Zug entlang zur Sperre. Ihm war krank und elend zumute, seine Füße waren wie aus Blei.
    Er wollte sie so nicht Wiedersehen: als Soldat, der nach Schützengräben stank, Blut an den Händen und Gier im Herzen hatte. Er mußte diese vier Jahre los werden und wieder zu dem ruhigen beherrschten Mann werden, den sie gekannt hatte; er konnte nicht als der harte brutale Kämpfer vor sie hintreten, zu dem ihn der ¡ Krieg gemacht hatte. Doch das war nicht mehr möglich. Verhärtete Hände können durch liebevolle Pflege wieder weich werden - verhärtete Seelen nicht.
    Der Kontrolleur an der Sperre besah sich seine Reiseunterlagen. Frank starrte suchend in die Menge: Soldaten, Bahnbeamte, Frauen — da eine Frau in Schwesterntracht! Er machte ein paar Schritte.
    «Hier - Ihre Papiere!» rief der Kontrolleur. Frank riß die Papiere an sich und lief los, die Augen fest auf die Pflegerin gerichtet. Sie sah nicht zu ihm herüber. War sie es denn? Alice war doch viel größer? Er verlangsamte den Schritt, und das Mädchen wandte sich um. Ein breites törichtes Gesicht. Enttäuscht blieb er stehen und sah sich suchend um. Wenn die Leute bloß mal stehenbleiben wollten! Alles lief durcheinander wie aufgestörte Ameisen in einem Haufen. Alice war nirgends zu sehen.
    Er ging in den Erfrischungsraum. Und da sah er sie - ganz still saß sie an einem Tischchen, eine Tasse Fleischbrühe vor sich. «Alice!» rief er, zog seinen Koffer durch die Tür und stürzte auf sie zu. «Alice!»
    Sie blickte erschrocken auf; es sah aus, als wollte sie um Hilfe rufen. «O bitte, entschuldigen Sie», sagte er verzweifelt. Auch diesmal war sie es nicht - er litt an Halluzinationen. «Verzeihung», murmelte er noch einmal und ging wieder hinaus. Im Laufschritt überquerte er den Platz vor den Bahnsteigen, schob sich durch die Menge, spähte in die Gesichter. Leutnant Frank Hardy, kühl und beherrscht, sah aus, als habe er den Verstand verloren.
    Endlich riß er sich zusammen. Sie war nicht da—sie hatte sicher sein Telegramm nicht erhalten. Oder sie hatte Dienst und konnte nicht kommen. Den Blick immer noch auf die Menschen ringsum gerichtet, fragte er einen Gepäckträger: «Wie komme ich nach St. Pancras?»
    «Untergrundbahn, Sir.» Der Mann wies auf das blaue Schild.
     

Der nächste Zug nach Ingerby ging um neun Uhr morgens.
    Frank schlief auf einer Bank im Bahnhof. Um sechs erhob er sich, kalt und steif, ging in den Waschraum und rasierte sich mit kaltem Wasser. Der Erfrischungsraum war geschlossen - das war nicht anders zu erwarten am ersten Weihnachtstag.
    Dann saß er da und beobachtete den Zeiger der großen Bahnhofsuhr. Die Uhr hypnotisierte ihn, machte ihm angst. Erbarmungslos und gleichmäßig rückte der Zeiger weiter, Schritt für Schritt, wie die Hand des Schicksals. Auf ihr Zeichen setzten sich die mächtigen Lokomotiven in Bewegung - in den Norden, nach Schottland, nach Wales -, unerbittlich und ohne Mitleid, wenn jemand zu spät kam. Auch für ihn, Frank Hardy, der hier wie auf einer Marterbank die Minuten bis zur Abfahrt zählte, ging die Uhr nicht schneller. Sie hatte die vier mörderischen Jahre, die hinter ihm lagen, in Stunden und Minuten zerteilt, sie hatte die verzweifelten Abschiedsszenen ebenso unbewegt registriert wie die kurzen Freuden des Wiedersehens. Nun wanderte sie gemächlich

Weitere Kostenlose Bücher