Und der Wind bringt den Regen
er hatte das Gefühl, daß die übrigen neununddreißig Jahre und einundfünfzig Wochen sicher ebenso scheußlich werden würden. Aber er hielt das für durchaus normal und fügte sich. Auch die Grundschule war scheußlich gewesen, und die Realschule nicht viel weniger. Wenn er von jetzt an für seine Arbeit bezahlt wurde, war es nur natürlich, daß es noch scheußlicher würde.
Er haßte die Bank aus vielerlei Gründen. Der Kontrast zwischen seinem Zuhause und dem griechisch-römischen Tempel der Bank war geradezu beängstigend. Jeden Morgen, wenn er um zehn Uhr die schweren Bronzetüren öffnete, wurde ihm angst. Wenn er sie um drei Uhr wieder schloß, war ihm etwas leichter zumute, obgleich er wußte, daß er noch drei oder vier Stunden in der Bank verbringen mußte, bis er die Briefe beim Postamt aufgeben und nach Hause gehen konnte. Er haßte auch den morgendlichen Gang zur Midland Bank, wo er zusammen mit einem Dutzend Angestellter anderer Banken Schecks abliefern und in Empfang nehmen und abrechnen mußte.
Er hatte Angst vor den großen Kontobüchern mit den vielen Spalten und vor den Bergen von Schecks, die alle nachzuprüfen waren. Er wußte, wenn er sich auch nur um einen Penny bei der Abrechnung irrte, mußte die ganze Abteilung so lange dableiben, bis der Fehler gefunden war, und wenn es bis Mitternacht dauerte. Aber am meisten Angst hatte er vor den anderen jungen Angestellten. Sie hatten sich alle ihrer Umgebung sehr schnell angepaßt, und Benbow fand sie hochnäsig, herablassend und ungeheuer gewitzt. Auch daß Ulrike seiner Arbeit so ablehnend gegenüberstand, gefiel ihm nicht. Schließlich trug er jetzt jeden Tag einen guten Anzug, helle Handschuhe und einen Stock, und er war Mister Dorman von Barclay’s Bank — das war doch was! Aber Ulrike sah es anders. Immer wenn er von der Bank sprach, wechselte sie das Thema und erzählte von Deutschland, von den Wandervögeln, den «Hitlerjungen». Und einen Vergleich mit der deutschen Jugend, die sonnengebräunt und singend durch die Wälder zog, hielt der blasse Bankangestellte Benbow natürlich nicht aus.
Aber er klagte nie und sprach auch nie über seine Ängste. Niemand wußte, daß er sich jeden Morgen fürchtete, und niemand ahnte, wie freudig er abends der Bank den Rücken kehrte: vier, fünf freie Stunden vor sich und dann noch die sichere Ruhe einer ganzen Nacht...
Auch wenn er mit Ulrike zusammen war, fand er keinen Frieden. Sie war lieb zu ihm, aber manchmal so reserviert und kritisch und ungeduldig. Sein Lebensziel war ihr unbegreiflich. «Was tust du da eigentlich?» fragte sie ihn ungeduldig. «Du sitzt jeden Tag in der schönen warmen Bank, sicher und beschützt wie eure Pfundnoten, bis du sechzig bist! Und dann kommt bald der nächste Schritt: ins Grab, in die Ewigkeit, die genau so sicher und langweilig sein wird wie dein ganzes Leben.»
«Aber was soll ich denn tun?» fragte er unglücklich. Er wußte, daß er mit Ketten an die Bank geschmiedet war wie ein Gefangener an die Mauer.
Sie sagte nichts, sie hob nur den Kopf und blickte ihn lange an. In ihren braunen Augen fing sich das Licht der untergehenden Sonne. Sie senkte den Blick und murmelte: «Komm mit mir nach Deutschland.» Dann stand sie plötzlich hinter ihm, ihre Hände streichelten sein Kinn und drückten seinen Kopf an ihre Brust. «Ach nein, nein.» Sie lachte jetzt. «Du würdest dich da drüben nicht zurechtfinden, mein kleiner Engländer. Du könntest dich dort nie behaupten.»
Er schob ihre Hände weg, drehte sich um und blickte sie an. Es kam selten vor, daß er zornig wurde; er glich dann wieder dem kleinen Jungen, der fast aus den Kleidern platzte. «Du brauchst mir wirklich nicht so deutlich zu zeigen, daß du mich verachtest.»
«Ich verachte dich nicht», sagte sie ruhig. «Nur - warte, ich zeig dir was.» Sie lief in ihr Zimmer und kam mit einem Foto zurück. «Hier — das ist mein Vetter Wolfgang.»
Das Bild sprach für sich: ein gutaussehender, blonder junger Mann, der selbstsicher in die Kamera lächelte. Eine kräftige Gestalt, ein energischer Mund, klare Augen. Er trug eine Uniform. «Warum zeigst du mir das?» fragte Benbow. Er hatte bisher nicht gewußt, was Eifersucht war.
Sie ignorierte seine Frage. «Wolfgang schreibt mir oft. Ach Benbow, alles ist da drüben so wunderbar. Sie veranstalten Fackelzüge und große Versammlungen, und alle sind so voller Leben und voller Freude.» Sie legte ihm die Hand auf den Arm. «Kannst du dir nicht vorstellen,
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