Und der Wind bringt den Regen
passiert? Sie muß doch etwas gesagt haben — sie kann doch nicht einfach so Weggehen.»
Großtante Mabel schaufelte vier Teelöffel Zucker in ihre Tasse und rührte energisch um. «Es kam ein junger Mann», berichtete sie. «Er sah wirklich gut aus, aber ich mochte ihn nicht. Er hat mir die Hand geküßt! Ich kam mir vielleicht dämlich vor, in meinen Gummistiefeln, und der küßt mir die Hand!» Sie trank.
«Ja, und? Mit dem sind sie weggegangen? Erzähl doch!»
«Er kam rein, und sie fingen an zu reden, alle drei, ganz schnell, immer auf deutsch. Und dann gingen die beiden nach oben, Rieke und ihr Vater, und als sie wieder runterkamen, hatten sie alle ihre Sachen gepackt. Rieke hat mir noch den Brief gegeben, ganz schnell, und dann gab sie mir einen Kuß. Aber sagen konnte sie nichts mehr, der junge Mann hatte es furchtbar eilig. Und dann waren sie draußen, und er schob sie in seinen Wagen.» Wieder kamen ihr die Tränen. «Sieg hat mir nicht mal einen Kuß gegeben. Fast zwanzig Jahre war er bei mir - und nicht einmal einen Kuß hat er mir zum Abschied gegeben.»
«Sie kommen bestimmt zurück», sagte Benbow hilflos.
«Nein, Junge, die kommen nicht wieder. Ich glaube, der junge Mann hatte sie irgendwie in seiner Gewalt, jedenfalls kam es mir so vor. Vielleicht kam er von... von diesem Führer, den sie da drüben haben.»
Benbow fühlte plötzlich einen kalten Schauer. So wird es werden— das war der Titel des Films gewesen, der ihn so tief erschüttert hatte, daß er sich seither die Zeit nahm, jeden Tag die Zeitung zu lesen. Nicht alles, was in Deutschland vorging, war Wanderlust und Freudenfeuer, und die «Hitlerjungen» waren keineswegs ruhmreiche Pfadfinder. Es gab offenbar auch anderes: finstere, blutige Dinge...
Das Sprechen fiel ihm schwer, als er jetzt fragte: «Wie—wie hat er ausgesehen, der junge Mann?»
«Blond. Er sah gut aus, groß und kräftig. Aber ich mochte ihn nicht.»
Wie hieß er doch, ihr Vetter? Ach ja, Wolfgang. Aber sie konnten doch nicht einfach so weggegangen sein! «Und - sie hat keine Adresse hinterlassen?» fragte er noch einmal. Tante Mabel schüttelte den Kopf. Er sah im Geist das riesige Land vor sich, dieses Deutschland, wie es sich die Engländer vorstellten: dunkle Wälder, schroffe Gipfel, Rhein und Ruhr, die Ebenen Preußens, kahl und unfreundlich, Berlin, militärisch und arrogant. Und irgendwo dort, weit weg und unauffindbar, war seine geliebte Ulrike! «Sie wird schreiben», sagte er. «Sie wird ganz bestimmt schreiben.»
Seine Mutter und Tante Mabel sagten nichts.
Mr. Crabtree war erleichtert, als er feststellte, daß der junge Dorman sich offenbar beruhigt hatte. Er war ein gutherziger Mann, und es hätte ihn bekümmert, wenn der Junge seine Heiratspläne weiter verfolgt hätte. Aber es kam keine weitere Bitte um ein Gespräch. Der Direktor war zufrieden mit sich: er hatte die Sache freundlich, fest und endgültig beigelegt.
Er wäre entsetzt gewesen, wenn er in Benbow hätte hineinblicken können. Buchungseingänge, Fälligkeitstermine, nicht eingelöste Schecks — das alles nahm er nur noch mechanisch wahr. Sein Denken war beherrscht von diesem Adolf Hitler, von dem schrecklichen Zukunftsfilm, den er kurz zuvor gesehen hatte. Er hatte Angst um Ulrike. Tausend irrsinnige Pläne schossen ihm durch den Kopf, wie er Ulrike wiederfinden könnte: er wollte bei der Bank kündigen und zu Fuß durch Deutschland wandern, in einer der Zeitungen inserieren, von denen man jetzt so viel im Rundfunk hörte — Der Völkische Beobachter oder Der Angriff—, er wollte an den Britischen Botschafter in Berlin schreiben oder das Rote Kreuz um Hilfe bitten.
Natürlich blieb es bei den Plänen. Weder seine Erziehung noch seine Veranlagung hatten ihn gelehrt, seine Gedanken und Sehnsüchte in die Tat umzusetzen.
Es blieb ihm schließlich nichts anderes übrig, als Tag für Tag verzweifelt auf den Briefträger zu warten. Und immer wieder in Gedanken ein Gedicht zu wiederholen, das er in der Schule gelernt hatte:
Der Halbmond zieht gen Westen, Lieb,
Und Regen bringt der Wind;
Du liegst so fern von mir, mein Lieb,
Die Meere zwischen uns sind.
Der Briefträger brachte Rechnungen und Prospekte, und die Firma May, Fernkurse im Bankwesen, schickte neue Aufgaben. Aber von Ulrike kam nie ein Brief.
22
Ingerby - das war für Frank Hardy allerdings der letzte Ort, den er sich ausgesucht hätte. Zu viele schmerzliche Erinnerungen waren für ihn mit Ingerby
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