Und die Goetter schweigen
Eisfläche zu gehen; man konnte nie wissen, wo es als Nächstes brechen würde.
Maria knipste den elektrischen Kerzenständer in ihrem Fenster an. Es sah nicht nach weißer Weihnacht aus. Im Gebäude der Staatsanwaltschaft gingen nach und nach die Lichter aus, als die Angestellten nach Hause gingen. Die Fassade auf der anderen Straßenseite wurde langsam dunkel. In Elviras Blumenladen schräg über der Straße prangten Amaryllis, Azaleen und Weihnachtssterne in unterschiedlich dekorierten Gruppen. Eine kurzbeinige Frau, von ihrem weißen Spitz an der Leine gezogen,überquerte den Zebrastreifen und verschwand im Blumengeschäft. Die schweren Einkaufstüten verklemmten sich in der Tür, und ein älterer Herr half ihr aus dem Dilemma. Ein weißer Spitz. Edvin Rudbäcks weißer Spitz hatte Loki geheißen. Warum gerade Loki? Loki war auch eine Gestalt aus der nordischen Mythologie. Maria konnte sich dunkel erinnern, dass Loki Idun, die Hüterin der Jugend, nach Jötunheim, ins Reich der Riesen, entführt hatte und dass die Asen danach zu altern begannen, runzlig und gebrechlich wurden. Loki, der Listige und Heimtückische. Warum hatte Edvin Rudbäck seinen Hund Loki genannt? Warum nicht Karo, Rufus oder Buster? Eigentlich müsste man sich diesen Zeugen nochmal vornehmen und ihn fragen, was er denn von nordischer Mythologie hielt, überlegte Maria, während sie die Nummer der Polizei in Uppsala wählte. Erleichtert stellte sie fest, dass Kriminalinspektor Hedlund nicht am Apparat war. Vor Krister war Maria mit Patrik Hedlund verlobt gewesen. Er hatte sie wie einen Bordercollie behandelt. Was zu einem Schrecken ohne Ende hätte führen können, wenn es weitergegangen wäre, hatte ein abruptes und schmerzhaftes Ende gefunden, als sie nach Stockholm zog und die Polizeiausbildung begann. Patrik hatte versucht, mit Maria in Briefkontakt zu bleiben, aber sie hatte, besorgt um ihre neu gewonnene Freiheit, nicht geantwortet. In den letzten Jahren waren die Gefühle abgekühlt, und schließlich schickte man sich nur noch Weihnachtskarten. In diesem Jahr hatte er noch gar nichts von sich hören lassen. Maria wurde quer durch die Hierarchie verbunden und landete schließlich bei Kriminalinspektor Fast, der bedauerte, dass der Kollege, der sich damals mit dem Fall des Erhängten bei der Kirche in Gamla Uppsala befasst hatte, vorzeitig in Rente gegangen war, als sich eine Gelegenheit dazu bot. Er pflegte zu Hause seine demenzkranke Frau. »Komm zwischen den Feiertagen gern her, dann helfen wir dir mit den Kontakten, die du brauchst. Der Mord hat kein großes Aufsehen erregt, kann ich mich erinnern. Alle Zeitungen schrieben damals über Tschernobyl. Kriminalinspektor Bernhard Myhr wird dir mehr sagen, wenn du kommst. Einiges an Material kann ich rüberfaxen. Übrigens, hier ist jemand, der dich sprechen will.« Maria holte tief Luft. »Hallo!«
»Hallo, und frohe Weihnachten, danke für deine Weihnachtskarte. Hast du das Bild auf der Karte, die ich dir geschickt habe, wiedererkannt? Das ist von dem gleichen Künstler gezeichnet, den wir Weihnachten 1986 kennen gelernt haben. Ich hab sie eingesteckt, als ich drüben in Dänemark war. Erinnerst du dich?« Patriks ein wenig heisere Stimme tönte aus dem Hörer. Maria schüttelte den Kopf, ohne daran zu denken, dass er sie nicht sehen konnte. »Du bist so still!«
»Ach nichts. Ich wünsche dir natürlich auch fröhliche Weihnachten. Hier sieht es nach hektischen Feiertagen aus. Wenn man zwischendurch ein wenig Glühwein und ein Stück vom Weihnachtsschinken abbekommt, kann man dankbar sein.« Sie hörte selbst, wie förmlich das klang, und zog ein Gesicht.
Maria bereitete sich auf den Heinweg vor. Es war der Tag vor Heiligabend. Ein Abend, an dem man vor dem Kachelofen sitzen, Geschenke einpacken, Glühwein trinken und von dem gerade fertig gewordenen Schinken essen sollte, an dem das Haus nach Schmierseife und frisch gewaschenen Gardinen duftete. Eigenartig, wie abgebrüht man werden konnte. Weihnachten lässt sich auch richtig schön feiern, wenn man nicht alle Schränke und Schubfächer aufgeräumt und sauber gemacht hat. Man kann sogar Weihnachtsschinken essen, ohne dass die Fenster geputzt sind, stellte Maria fest. Berit pflegte zu sagen, dass man in dieser dunklen Jahreszeit eigentlich überhaupt nicht sauber machen musste. Wenn man es so einrichtet, dass man Besuch nur nach Einbruch der Dunkelheit einlädt, was nicht schwer fällt, wenn die Dämmerung schon gegen 15.00 Uhr
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