Und die Goetter schweigen
Schwierigkeiten in das Archiv der Frauenklinik hineingelangt, hatte ihr Krankenblatt gefunden und mit nach Hause genommen. Die Buchstaben hatten wie Feuer auf ihrer Netzhaut gebrannt. Sie hatten ihr nicht nur ihr Mädchen genommen. Sie war auch verstümmelt worden, der Möglichkeit beraubt, Leben zu spenden. Disa unterdrückt einen Schrei, presst die Hände auf ihren leeren Unterleib. Die Asche der Zigarette fällt auf den Boden. Das ist es, was die Oberpriester der neuen Zeit mit ihr gemacht haben! Daher wandte sie sich noch einmal mit ihren Wünschen an die Asen. Die Bitte um Fruchtbarkeit in einem verdorrten Schoß, wenn die Rache vollendet und der schuldige Mann geopfert worden ist. Nach dem Opfer hatte sie den Kopf ihres Vaters im Brunnen um Rat gefragt, und plötzlich war ihr klar geworden, dass sie das Kind nicht in ihrer eigenen Gebärmutter tragen sollte. Freyja würde das Kind gebären und es ihr schenken. In ihrer gehobenen Stellung, als Asin der Rache, würde sie kein Kind gebären. Sie sollte ein Gotteskind bekommen! Eine kleine Göttin, die sie beschützen durfte. Neun endlose Jahre lang hatte sie auf Freyja gewartet. Disa blättert die Seite des Albums um. Das Gesicht blickt sie grinsend und höhnend und anklagend an: Piss- Lisa, Dreck-Disa, hallt die Vergangenheit wider. Die Klassenkameraden auf einer Seite des Zauns, Disa auf der anderen. »Du bist genauso verrückt wie deine Mutter, Hurenkind!« Die sollten sie jetzt einmal sehen, Disa- Racheengel. Sie hat kein Unrecht begangen. Disa reckt den Kopf hoch. Sie hat sich gerächt, wie es der Brauch verlangt. Sie hat niemals hinterrücks getötet, niemals ihren Eid gebrochen. In offenem Kampf ist sie Kent Asp, Dick Wallström und Bertil Simonsson gegenübergetreten und hat ihnen furchtlos das Messer in den Körper gerammt. Kent Asp ist jetzt ein glücklicher Mann. Tapfer ist er im Kampf gefallen. Die Walküren haben ihn geholt und ihn nach Walhall gebracht. Gerecht ist sie und gut, die Göttin War.
Disa wirft sich die schwarze Lederjacke über und geht hinunter zum Brunnen, um sich bei ihrem Vater Rat zu holen. Sie muss wissen, wann sie ihr Kind holen soll. Der Brunnendeckel ist schwer, weil Schnee und Eis darauf liegen. Mühsam hebt sie ihn auf und lehnt ihn gegen die Wand. Sie beugt sich vor. Mit der Hacke schlägt sie ein Loch in das dünne Eis und beugt sich flüsternd über die Kante des Brunnens. Sie fühlt seinen eisigen Atem und lauscht auf das Echo seiner Stimme.
DER 29. DEZEMBER
24
Der Zug nach Uppsala hatte Verspätung. Maria Wern zitterte in dem zugigen Wartesaal und starrte auf den Lautsprecher an der Decke, als könnte sie ihn mit reiner Willenskraft dazu bewegen, die Ankunft des Zuges aus Kronköping auszurufen. Um zwei Uhr in der Nacht war Maria aufgewacht, und ihr war etwas durch den Kopf gegangen, ein Gedanke, der sie auch jetzt noch nicht losgelassen hatte. Um vier Uhr war sie beinahe so weit gewesen, Hartman anzurufen, sah aber nach einem Blick auf die Uhr ein, dass er schon unterwegs sein musste. Was Marias Nackenhaare sich sträuben ließ, war der Gedanke, dass Disa Månsson Zahnarzthelferin gewesen war. Konnte die Antwort auf ihre Fragen in dem Archiv von Zahnarzt Eriksson zu finden sein? Erikssons Zahnarztpraxis würde nicht vor neun Uhr aufmachen. Das hatte der Anrufbeantworter mehrfach in Marias ungeduldiges Ohr wiederholt. Wenn man ihn vorher zu Hause erreichte, konnte das ein Vorteil sein, aber Maria traute sich, aus Schaden klug geworden, nicht, irgendetwas zu unternehmen, bevor sie sich nicht mit Hartman abgestimmt hatte. »Zug aus Söderhamn und Gävle nach Uppsala, Ankunft 07.00, ist verspätet und fährt voraussichtlich um 07.45 Uhr auf Gleis vier ein«, krächzte der Lautsprecher. Maria ging hinüber in die Cafeteria und kaufte sich eine Tasse schwarzen Kaffee. Die erste Seite der Morgenzeitung zeigte Stina Ohlssons Gesicht in Großaufnahme. Die Werbeplakate schrien die Headline des Tages heraus: NEUES OPFER DER MILITANTEN VEGANER! POLIZEI MACHTLOS! Maria nahm eine Zeitung aus dem Ständer und fand ganz unten auf der Seite ein Bild von Kommissar Ragnarsson-Sturm mit gekreuzten Armen und der obligatorischen Kippe im Mund. »Die Situation ist sehr kompliziert, aus fahndungstechnischen Gründen können wir keine Details bekannt geben«, sagt der Kommissar. Beim Anblick von Ragnarssons angsteinflößendem Äußeren mit herunterhängender Kippe konnte man den Eindruck bekommen, es handele sich um eine aggressive Anti-
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