Und die Ratte lacht - Roman
berührt, die man eigentlich nur mit einem Vergrößerungsglas auf der Landkarte erkennen konnte, wie San Marino und Andorra und den Vatikan, der mitten in Rom liegt, um ihr zu beweisen, dass es möglich war. Aber sie sagte, sie sei schwach in Geographie und außerstande, den genauen Ort zu zeigen. Da sagte ich, es müsse nicht unbedingt so genau sein, auch ungefähr wäre in Ordnung, und sie sagte, lass mich in Ruhe, mein Schatz, es ist unmöglich. Trotzdem nahm ich ihren Finger – ein schöner, gepflegter Finger mit langen Nägeln, immer lackiert – und versuchte, ihn auf den alten Atlas zu legen, aber sie sagte, vielleicht gibt es diesen Ort gar nicht mehr, oder es hat ihn nie gegeben, denn am Ende des Milleniums ändert sich sowieso alles, und im nächsten wird nichts mehr sein, wie es war. Und dieses Wort »Millenium« hörte sich aus ihrem Mund seltsam an, obwohl man es den ganzen Tag in der Werbung hört, für Sonderverkäufe zum halben Preis.
Und dann stellte sie mich auf die Probe. Sie schob den Atlas zur Seite und nahm stattdessen mein Heft. Sie schlug es auf, blätterte und betrachtete den Einband und fragte, wo ich es gekauft habe.
Ich sagte, in einem Schreibwarengeschäft bei uns in der Nähe, bevor das Schuljahr anfing, nichts Besonderes. Ich habe gleich einen ganzen Haufen gekauft, damit sie mir für das Schuljahr reichen. Und sie fragte, ob ich Engel liebe, und ich sagte, es ist mir egal, was auf dem Umschlag ist, ich werde das Heft ohnehin wegwerfen, wenn es voll ist, ich warte noch nicht mal das Schuljahrsende ab, ich werfe es sofort weg, ich hebe es nicht zur Erinnerung auf. Sie betrachtete noch einmal den Umschlag, prüfte ihn, als sei sie noch immer Röntgenassistentin und noch nicht pensioniert.
Ich sagte, die Sache mit den Heften sei nur eine Mode, und von mir aus könnten auch Britney Spears oder Pu der Bär darauf sein, der Engel sei purer Zufall, obwohl ich zugeben muss, dass ich, wenn ich mich im Unterricht langweile, ihm einen Schnurrbart oder irgendwelche Tattoos aufmale, ich radiere die Flügel weg und verändere seine Form. Er ist wirklich toll, dieser Engel, er erlebt die beste Zeit seines Lebens, obwohl ich glaube, dass für Engel so etwas wie Zeit nicht existiert.
Sie blätterte im Heft und ich war sicher, dass sie irgendeine Bemerkung machen würde, weil ich nichts aufgeschrieben hatte, aber sie schien sogar zufrieden zu sein.
Ich wollte schlau sein, sie meinerseits auf die Probe stellen, und fragte sie, in welcher Sprache sie träume, und sie sagte, es gebe Menschen, die im Traum nie den Mund aufmachen, sie schweigen während des ganzen Traums, und dann sagte sie, sie träume überhaupt nicht. Ich sagte, das kann nicht sein, jeder Mensch träumt, auch wenn er es nicht weiß, sogar Babys träumen schon in der Gebärmutter, sagen die Wissenschaftler, und sie sagte, es gebe Leute, die all ihre Träume auf einmal träumen. Ich sagte, es sei eine große Vergeudung, alles auf einmal zu erledigen, denn dann würde nichts übrig bleiben, und man brauche noch einen Traum für den Notfall.
Sie schwieg, und ich dachte, dass der einzige Traum, den sie je hatte, vielleicht schon abgenutzt war, und wie schade das wäre.
Dann ging sie für einen Moment weg, zur Toilette oder ins Badezimmer, ich weiß es nicht, und ich hörte sie husten. Ich weiß nicht, ob sie erkältet war oder ob es sich um eine Krankheit von alten Leuten handelte. Ich erschrak ein bisschen, ich will nicht, dass sie stirbt, wie mein Großvater gestorben ist, obwohl meine Mutter mich die ganze Zeit darauf vorbereitet, dass es irgendwann geschehen wird.
Inzwischen nahm ich aus Großvaters Regal das alte, abgenutzte Lexikon der hebräischen Sprache, das neben dem Atlas steht, ein altes Buch mit teilweise zerrissenen, auseinanderfallenden Seiten, aber es war das einzige, was es gab, deshalb nahm ich es und schlug das Wort »Erinnerung« auf.
»Die seelische Kraft, sich an etwas zu erinnern und es nicht zu vergessen.«
Da dachte ich, wenn ich ihrer Seele Kraft geben könnte wie eine elektrische Batterie, könnte das, an was sie sich erinnern müsste, aufsteigen, und ich fragte mich, ob meine Seele genügend Kraft hätte, ihr etwas abzugeben, und wie man überhaupt die Kraft der Seele messen könne.
Dann kam sie zurück und ich fragte sie, ob sie in Ordnung sei, denn sie sah ein bisschen blass unter ihrer Schminke aus, und ich verstand auch nicht so ganz, warum sie sich für mich geschminkt hatte, denn ich sah sofort,
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