Und die Ratte lacht - Roman
dass sie sich die Lippen neu angemalt und Rouge aufgelegt hatte. Sie sagte, das sei nur wegen der Hitze, aber ich habe ihr nicht wirklich geglaubt. denn ich sah, dass sie eine ihrer Perlenketten in der Hand hatte, und sie fing an, die Perlen durch die Finger gleiten zu lassen. Ich war wie hypnotisiert, ich zählte sogar mit. Einundvierzig Perlen. Und dann entdeckte sie das offene Wörterbuch auf dem Tisch und stellte es an seinen Platz im Regal zurück, neben den Atlas. Sie stand mit dem Rücken zu mir, als sie sagte, ich habe sogar beim Eislaufen gewonnen.
Einen Moment lang dachte ich, sie erzähle mir von ihrem einzigen Traum, von dem wir vorher gesprochen hatten, ein sehr schöner Traum, ich wünschte, es wäre meiner gewesen. Da schob sie erst Opas Sessel zur Seite und dann das Sofa und rollte den Teppich auf, sie warf die Schuhe ab und so, mit nackten Füßen, fing sie an, über die Fliesen zu gleiten, sie drehte sich richtig auf einem Bein, wie eine Profiläuferin, als hätte sie ihr Leben lang geübt. Ich fing an zu lachen, ein richtiges, lautes Lachen, nicht wie ihres. Ich sagte, Oma, warum brauchst du Internet? Ich kaufe dir zum Geburtstag Rollerblades, von meinem gesparten Geld, das ich zur Bat-Mizwa bekommen habe – du musst mir bloß sagen, wann du Geburtstag hast.
Und da setzte sie sich auf den Boden, nahm meine Hand und sagte, Süße, ich weiß nicht, wann ich Geburtstag habe.
Jeder Mensch weiß, wann er feiert und welche Geschenke er bekommen hat. Wie kann es sein, dass sie sich noch nicht mal an ihren Geburtstag erinnert? Woher soll ich die Kraft nehmen, um sie ihrer Seele zu geben, damit sie sich auch nur an diese Kleinigkeit erinnert, die in meinen Augen wichtig ist …
Als sie sah, wie betroffen ich war, versuchte sie sofort, mich zu trösten, es ist doch nur ein Tag wie alle, und man kann immer einen anderen Tag feiern.
Was für einen anderen Tag?
Einen Tag, an dem etwas nicht weniger Wichtiges passiert ist.
Was für eine Art Etwas?
Vielleicht den Tag, an dem ihre Eltern zurückkamen, aber sie waren nicht zurückgekommen. Oder den Tag, an dem ihr der Bauer und die Bäuerin auf Wiedersehen gesagt haben, sie war bestimmt nass von ihren Tränen, denn inzwischen waren sie für sie wie ein Vater und eine Mutter, Adoptiveltern, und ich bin sicher, dass es ihnen sehr schwer fiel, auf das Mädchen zu verzichten, an dem sie hingen und das sie gerettet hatten. Natürlich haben sie sie geliebt. Das brauchte ich nicht zu fragen.
Auf einmal verstand ich, dass ich gar nicht wusste, wie alt sie war, vielleicht weiß sie es selbst nicht. Nicht dass das genaue Alter etwas ändert, aber auf den genauen Tag kann ich nicht verzichten, ist doch der Tag, an dem ich auf die Welt gekommen bin, der glücklichste Tag im Leben meiner Eltern, und ich verstand nicht, warum sie den Wert ihres Geburtstags so abtat, denn an meinen und den meiner Mutter und den aller anderen erinnert sie sich genau, obwohl sie mir zu meiner Bat-Mizwa am Schluss kein Tier und gar nichts gekauft hat.
Und obwohl ich kein Wort sagte, erinnerte sie sich wieder an die Ratte.
Ratte?
Sie war bei mir, sagte sie.
Ein Schauer lief mir über den Rücken.
Ein abstoßendes Tier, das abstoßendste, das es gibt. Was für ein Albtraum, mit einer Ratte zu leben. Die Tage und Nächte mit ihr zu verbringen. Ich hätte das nicht ausgehalten.
Glaub mir, Miri, ich wollte möglichst schnell das Thema wechseln. Aber mir fiel keine einzige der Fragen ein, die ich vorbereitet hatte, und die Themen waren mir entfallen. Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, aber ich fragte sie, in welcher Sprache sie mit ihren Eltern gesprochen hatte, deren Namen ich noch nicht mal weiß, und die nun verloren sind.
Und diese Frage bedauerte ich, denn es ist unmöglich, eine alte Erinnerung durch eine neue, bessere zu ersetzen, mit mehr Gigabytes, der neueste Hit.
Trotzdem antwortete sie.
Sie sagte, es sei eine Sprache gewesen, die man schon nicht mehr benutze, wie diese alten Sprachen, zum Beispiel Sumerisch und Akkadisch, die von der Erde verschwunden sind, sie habe sich daran gewöhnt, sich nicht an Wörter zu erinnern. Nur an die Dunkelheit.
Dunkelheit hat sogar einen Geschmack, sagte sie, und als es nun wirklich dunkel wurde, sagte sie, vielleicht bringe ich dir bei, wie man sie fühlt.
Vielleicht.
Sie streckte die Finger, bewegte sie, als betaste sie etwas. Ich hatte das Gefühl, als halte sie etwas in der Hand, durchsichtig, aber für sie ganz real.
Ich
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