Und die Ratte lacht - Roman

schwieg.
    Die Dunkelheit fühlen.
    Ich bin nicht sicher, ob ich das will.
    Also was haben sie gesagt, als sie dich wegschickten.
    Sei ein braves Kind.
    Ich dachte, sie phantasiert, es kann doch nicht sein, dass Eltern so etwas zu ihrer Tochter sagen, wenn sie sie weit weg schicken.
    Am logischsten wäre es doch, dass sie sie ganz fest umarmt und mit ihren Tränen übergossen hätten, vielleicht war das ja der Grund, weshalb sie es vorzog, zu lachen. Ich sage die Wahrheit, Miri, ich habe meine Großmutter noch nie weinen gesehen. Auch bei der Beerdigung meines Großvaters stand sie aufrecht da und schaute direkt in die Grube, während meine Mutter völlig zusammenbrach und ich mich wegen ihres lauten Weinens geniert habe, und mein Onkel Nachum musste sie stützen. Ehrlich gesagt, nur unter uns, manchmal glaube ich, dass meine Mutter meinen Großvater mehr geliebt hat, als sie meine Großmutter liebt, denn sie hört nicht auf, sie zu beschimpfen, dass sie nur für sich lebt, als sei sie allein auf der Welt. Ich habe einmal zu meiner Mutter gesagt, das liege vielleicht daran, dass sie den Holocaust überstanden hat, und meine Mutter sagte, was hat sie schon überstanden im Vergleich zu anderen? Ich zuckte zusammen. Ich mag den Ausdruck »im Vergleich zu« nicht, denn es gibt immer jemanden, der mehr leidet, oder weniger, und Leiden kann man nicht messen. Das erinnert mich daran, dass man mich als glückliches Mädchen bezeichnet, weil ich einen Computer habe und CDs und eine großartige Anlage und unbegrenzten Internetzugang, während es Kinder auf der Welt gibt, die von morgens bis abends in irgendeiner stinkigen Fabrik arbeiten, um Sohlen auf meine Nikes zu kleben.
    Auch mein Vater war zur Beerdigung gekommen – obwohl er und meine Mutter geschieden sind, seit ich sechs war –, denn er hatte meinen Großvater sehr gern. Er kam mit dem Flugzeug von Palo Alto, wo sich seine High-Tech-Firma befindet. Nur seine neue Frau kam nicht. Und als er Großmutter so nah am Grab stehen sah, zog er sie einfach zurück, aber sehr sanft.
    Ich sagte zu ihr, du traust mir nicht. Ich bin groß, ich kann alles hören. Wir sind eine andere Generation, wir sehen alles, wir wissen alles, wir sind mit Fernsehen und Computern aufgewachsen, uns bleibt nichts verborgen. Die schlimmsten Grausamkeiten sehen wir live im Fernsehen, sogar in Unterhaltungssendungen. Zerschellende Flugzeuge, Menschen, die sich gegenseitig eine Kugel in den Kopf jagen und Drogen spritzen, und Autobusse, die in die Luft gejagt werden. Was könnte sie mir schon offenbaren, was ich nicht weiß?
    Natürlich hatte sie es schwer. Ich bin ja nicht dumm. Man brachte sie in ein fremdes Dorf, zu Leuten, die sie nicht kannte, und es war sicher nicht leicht, all die fremden Gewohnheiten zu lernen. Ich kann mir vorstellen, dass die Bäuerin ziemlich streng mit ihr war, damit sie sich möglichst schnell eingewöhnte und die Rolle der verwaisten kleinen Verwandten spielen lernte, die zu ihnen gekommen war. Ich glaube, sie hat sich daran gewöhnt, sie musste, welche Wahl hätte sie gehabt? Und es ist gut, dass sie so klein war, denn ich glaube, kleine Kinder gewöhnen sich schnell an einen anderen Ort, und was man ihnen sagt, tun sie, bis es ihnen am Schluss ganz natürlich vorkommt. Ich habe mich ja auch daran gewöhnt.
    Und mein Vater ist noch nicht mal zu meiner Bat-Mizwa gekommen …
    Was für ein Glück sie hatte, dass sie nicht erleben musste, wie ihre Eltern vor ihren Augen umgebracht wurden. Mich überläuft ein Schauer, allein der Gedanke, was ihr alles hätte passieren können, wenn sie bei ihnen geblieben wäre. Ihre Eltern haben sie einfach an einen anderen Ort geschickt, »bis der Zorn abflaut«, wie es in Büchern heißt, und dadurch haben sie sie vor all dem Schrecklichen bewahrt.
    Ich fragte, mit welchen Spielsachen sie gespielt habe und welche Lieder ihr die Bauersleute beigebracht hatten, und hoffte, diese Frage würde in ihrer Erinnerung ein Bild des Dorfs wachrufen, das sicher sehr hübsch gewesen ist, mit Wäldern, die es umgaben, und mit Schnee. Ich stellte mir sogar eine rote Schleife in ihren Haaren vor, und eine weiße Schürze und einen Weidenkorb, wie bei Rotkäppchen, ich sah, wie sie Blumen pflückte oder alle möglichen Früchte wie Himbeeren oder Heidelbeeren. Dieses Bild beschrieb ich ihr sogar laut, denn manchmal kann ein Bild der Erinnerung einen Tritt geben und sie wacht auf, zumindest ist es bei mir so, obwohl ich ihr den Duft natürlich nicht