UND ES WAR SOMMER - Wiggs, S: UND ES WAR SOMMER
Lipschitz geklettert. Für Rosa war es immer noch das Haus der Lipschitzs, obwohl Lindas Eltern schon vor Jahren nach Vero Beach in Florida gezogen waren.
Sie stellte ihren Wagen am Straßenrand vor dem Haus Nummer 115 ab und betrachtete den Garten, der so gepflegt war, dass die Leute oft stehen blieben und ihn bewunderten. Eine sorgfältig gestutzte Hecke schützte die Rosensträucher, die von Frühling bis Winter in Blüte standen. Jede der Rosensorten hatte einen Namen. Nicht den botanisch korrekten Namen, sondern den von Freunden und Verwandten. Neben „Salvatore“, „Roberto“ und „Rosalina“ gab es auch Rosen, die nach Familienmitgliedern und Bekannten in Italien benannt waren, die Rosa selbst nie kennengelernt hatte. Da gab es zum Beispiel „La Donna“, eine scharlachrote Schönheit, die neben den Beetrosen blühte, an deren Namen sie sich nicht mehr erinnern konnte.
Der kräftige Strauch neben der Treppe zur Haustür, der unzählige champagnerfarbene Blüten trug, war natürlich die „Celesta“. Unweit davon blühte jene Rose, die Rosa als sechsjähriges, von der Farbe Pink ungeheuer fasziniertes Mädchen für sich selbst ausgesucht hatte. An jenem Tag war Mamma schrecklich stolz auf sie gewesen. Rosa war froh, dass sich das Bild des glücklichen, strahlenden Gesichts ihrer Mutter so in ihr Gedächtnis – und ihr Herz – eingeprägt hatte. Sie wünschte, alle Erinnerungen an früher wären so schön und ungetrübt. Doch dieser Wunsch war naiv, das hatte sie mittlerweile gelernt.
Sie schob den alten Schlüssel ins Schloss und sperrte die Tür auf. Paps hatte ihr diesen Schlüssel gegeben, als sie neun Jahre alt gewesen war, und sie hatte ihn kein einziges Mal verloren oder verlegt. Aus Gewohnheit rief sie nach ihrem Vater. Doch er konnte sie schon seit Jahren nicht mehr hören.
Aus dem hinteren Teil des Hauses wehte ihr plötzlich ein scharfer Geruch entgegen. Außerdem war ein merkwürdiges Surren zu hören.
„Scheiße“, fluchte sie leise und rannte in die Küche. Auf dem Tisch stand ein Mixer, dessen überhitzter Motor vor sich hin brummte und aus dessen Gehäuse bereits Rauch kam. Es stank nach verbranntem Gummi. Rasch riss sie den Stecker aus der Steckdose, sodass der bereits lauwarme Früchtemix im Behälter beinahe überschwappte. Der Rauchmelder an der Decke blinkte. Was für einen Sinn hatte dieses Ding, wenn Paps davon keine Notiz nahm?
„Du lieber Himmel, mit solchen Aktionen schaufelst du dir dein eigenes Grab, Paps“, murmelte Rosa, fächelte sich den Rauch aus dem Gesicht und betrachtete durchs Fenster ihren Vater, der mit Gartengeräten hantierte.
Auf dem Tisch neben dem Mixer lag die aufgeschlagene Zeitung mit Emily Montgomerys Traueranzeige. Rosa stellte sich vor, wie ihr Vater beim Frühstück die Zeitung durchgeblättert hatte und wie erschrocken er gewesen sein musste, als er die Nachricht von ihrem Tod gelesen hatte. Wahrscheinlich war er in den Garten gegangen, um nachzudenken.
Sie öffnete die Fenster und schaltete den Dunstabzug über dem Herd ein. Dann leerte sie den Inhalt des Mixers in den Müll. Während sie das Durcheinander aufräumte, wurde sie wieder von Erinnerungen eingeholt. Sie sah genau vor sich, wie ihre Mutter in der blitzblanken, vor Sauberkeit funkelnden Küche den Pastateig auf den riesigen Tisch legte und dann das Nudelholz mit den roten Griffen mit kräftigen, rhythmischen Bewegungen über den buttergelben Teig rollte.
Dass es nun hier, in Mammas Reich, nach Rauch stank, passte so gar nicht in dieses Bild. Der Duft ihres Ciambellone, dieser unvergleichlich köstlichen Mischung aus Kuchen und Brot, war so intensiv gewesen, dass er regelmäßig die Nachbarinnen angelockt hatte. Rosa erinnerte sich gut daran, wie die Frauen in ihren Schürzen und Hauspantoffeln auf den Stufen der Veranda gesessen, gemütlich Kaffee getrunken und dazu Mammas ofenfrische italienische Spezialität gekostet hatten.
Auch heute gab es im „Celesta’s-by-the-Sea“ Ciambellone zum Brunch. Genau wie Mamma damals formte nun Butch den Teig eigenhändig und ohne Backform zu dem typischen Kranz. Rosa schätzte Butchs Kochkünste außerordentlich, aber eine ganz bestimmte, kleine, aber feine Zutat fehlte bei allem, was er kochte. Es fehlte – Rosa fiel kein besseres Wort dafür ein – der Zauber. Das ganz gewisse Etwas, das Mammas Essen gehabt hatte. Natürlich würde das nie jemand erreichen, das war Rosa klar – doch tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie nie
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