UND ES WAR SOMMER - Wiggs, S: UND ES WAR SOMMER
schließlich vor der Spüle auf die Zehenspitzen, um durch das Fenster nach draußen zu gucken. Man hatte einen direkten Blick auf das Meer. Ihre Mutter wäre ausgeflippt beim Anblick dieser Küche.
Allerdings roch es hier nach nichts. Nur ganz schwach nach Reinigungsmittel. In Mammas Küche hatte es immer nach gegrilltem Hühnchen oder Pizza oder frisch gepresstem Zitronensaft geduftet.
Rosa warf den Stil ihres Eises in einen glänzenden, kugelförmigen Abfalleimer. Und dann konnte sie ihre Neugier nicht mehr zügeln. Sie wusste, dass Schnüffeln nicht in Ordnung war, aber sie musste sich hier einfach ein bisschen umsehen. Diese großen Villen, in deren kreisförmigen Einfahrten funkelnde Autos standen und in deren Gärten Leute mit Sommerhüten und frisch gestärkten weißen Hemden Partys feierten, hatten sie immer schon interessiert. Bis jetzt hatte sie diese riesigen Gebäude mit ihren kunstvoll verzierten Fassaden immer bloß von außen gesehen.
Barfuß und in ihrem viel zu großen Bademantel schlich sie über den glänzenden Holzboden den Flur entlang. Mit einer Hand hielt sie den nagelneuen Schlüssel umklammert, den Paps ihr gegeben hatte und den sie nun um den Hals trug. Sie war alt genug für einen eigenen Schlüssel, und er hatte ihr eingeschärft, sie dürfte ihn nie verlieren.
Mrs. Carmichaels Stimme war nun etwas deutlicher zu hören. Als Rosa merkte, dass es in diesem Telefonat offenbar um sie ging, blieb sie wie angewurzelt unter einem großen Bild in einem altmodischen Rahmen stehen, auf dem ein Segelboot zu sehen war.
„… habe keine Ahnung, was man mit dem armen kleinen Ding den ganzen Sommer über machen soll. Pete war kaum fünf Minuten weg, und schon hat sie etwas angestellt.“
Pete war Paps. Anscheinend warteten alle Frauen, die ihn kannten, geradezu darauf, dass er ohne seine Frau nun nicht mehr zurechtkäme.
„Ach … was weiß ich“, sagte Mrs. Carmichael gerade. „Am besten wäre, er würde der Kleinen zuliebe wieder heiraten. Das Mädchen braucht eine Mutter.“
Nein, danke. Rosa vergrub ihr Gesicht im Ärmel des Bademantels, damit man ihr entrüstetes Schnauben nicht hörte. Sie brauchte auf keinen Fall eine Mutter. Sie hatte die beste Mutter auf der ganzen Welt, und nur weil sie nun nicht mehr hier war, bedeutete das doch nicht, dass sie weg war. Mamma und Rosa gehörten auf eine ganz besondere Art und Weise zusammen. Das hatte Pater Dominic gesagt, und jeder wusste, dass Priester stets die Wahrheit sagten.
Ich rede immer noch mit dir, stimmt’s, Mamma? Rosa versuchte, sich mit ganzer Kraft auf die Worte zu konzentrieren, während sie sie in Gedanken aussprach.
„Wenigstens hat Pete seine Arbeit“, fuhr Mrs. Carmichael fort. „Er ist immer fröhlich, wenn er arbeitet – ganz anders als sonst.“ Sie lachte leise. „Hm, ja, ich weiß. Und da er ja ein durchaus gut aussehender Mann …“
Nun hatte Rosa das Lauschen satt. Es war langweilig. Alle sagten immer, dass Paps noch jung und attraktiv war und sich eine neue Frau suchen sollte. Warum glaubten die Leute, man könnte einen Menschen einfach ersetzen, als wäre er ein Schulbuch, das man verloren hatte und beim Direktor nachkaufte?
Sie beschloss, das Haus weiter zu erkunden. Irgendwie kam es ihr vor, als wäre sie in ein verzaubertes Schloss geraten. Der Raum, den sie nun betrat, hatte weiße und zitronengelbe Wände und weiße Möbel. In einer Schale lagen Muscheln, in silbernen Bilderrahmen sah man weiß gekleidete Menschen mit faltenlosen Gesichtern – ganz wie in der Zeitschriftenwerbung. Es gab einen riesigen Strauß Blumen, die wahrscheinlich aus dem Garten stammten, um den Paps sich kümmerte. Auf der Glasplatte des Couchtischs lag eine beeindruckend aussehende Sammlung von Walzähnen, die kunstvoll graviert waren. Am Kaminsims stand ein Kerzenständer aus Kristall, in dem lange weiße Kerzen steckten, die noch nie angezündet worden waren.
Das alles hier war so ganz anders als beispielsweise bei Linda zu Hause. Viel, viel größer und unglaublich still. Und die Blumen verbreiteten hier denselben Geruch wie im Bestattungsunternehmen, wohin man Rosas Mutter nach ihrem Tod gebracht hatte.
Auf Zehenspitzen schlich sie weiter den Flur entlang. Eine hohe Flügeltür aus Holz und Glas führte in einen Raum, in dem es mehr Bücher gab als in der gesamten Redwood-Bibliothek in Newport.
Rosa liebte Bücher. Als Mamma schon zu krank und zu schwach für alles gewesen war und Rosa nicht einmal mehr einen Zopf hatte
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