UND ES WAR SOMMER - Wiggs, S: UND ES WAR SOMMER
„Katzen-Casanova“ war, aber die Melodie war toll, und ihr großer Bruder Sal hatte ihr den gesamten Text beigebracht, bevor er und Rob, ihr zweiter Bruder, heute frühmorgens den Zug genommen hatten. Sie waren irgendwohin gefahren, wo sie eine sogenannte Grundausbildung machen würden, und wer wusste schon, wann Rosa die beiden wiedersehen würde?
Sie schaukelte so hoch hinauf, dass sie den einsamen Strand am Ende des Gartens sehen konnte. Das Gras unter ihr war grün, der Himmel über ihr blitzblau , wie Mamma immer gesagt hatte, und im Teich spiegelten sich die Gänseblümchen und die violetten Lobelien. Möwen zogen wie fliegende weiße Ritter übers Meer, und Rosa fühlte sich unglaublich unbeschwert und frei.
Der Sommer war da. Vor ihr lagen schier unendlich viele Tage ohne Schwester Baptista, unter deren gestrengem Blick man sich oft krümmte wie ein Wurm, den man auf einer Nadel aufgespießt hatte.
Das verschlafene Städtchen Winslow veränderte sich im Sommer. An der Küstenstraße sah man plötzlich Autos mit offenem Verdeck fahren, und Paps pflegte zu sagen, dass nun die Preise für Benzin und Lebensmittel in die Höhe schnellen und man Freitagabend bald keinen Tisch mehr in „Mario’s Flying Pizza“ kriegen würde. Rosa und Paps allerdings bekamen natürlich immer einen Tisch, denn schließlich war Mario Mammas Cousin.
Rosa ließ ihre Schaukel ausschwingen und stützte sich dann mit einem nackten Fuß am Stamm der Ulme ab, um den Schwung endgültig zu stoppen. Sie spürte etwas Trockenes und Bröckeliges unter ihrer Fußsohle, das unter der Berührung in sich zusammenfiel. Als Nächstes war eine Art Summen zu hören, und dann begann Rosas Fuß zu brennen wie Feuer.
Eine Sekunde später sah sie eine dunkle Wolke aus dem Baum nach oben steigen, und das Summen wurde ein bedrohlich lautes Brummen. Sehr bedrohlich.
Sie wusste nicht, wie sie aus ihrer Schaukel auf den Boden gekommen war. Die brennenden Wunden und die vielen Stiche und Kratzer in ihren Kniekehlen würde sie erst später entdecken. Sie landete im Gras, brüllte vor Schmerz und schrie bei jedem Stich, den sie spürte, erneut auf.
Dann rannte sie zum Teich mit dem Springbrunnen.
Rosa hechtete ins klare, kühle Nass. Es ging nicht anders. Es war ein Notfall.
Das kalte Wasser half, der Schmerz ließ sofort nach. Dann spürte sie, wie sich langsam der aufgewirbelte Schlamm vom Grund des Teichs angenehm lindernd auf ihre Haut legte. Als sie wieder auftauchte, merkte sie, dass noch ein paar Bienen herumschwirrten. Also blieb sie im seichten Wasser sitzen und versuchte mit Händen und Füßen, die aggressiven Brummer zu vertreiben. Dann zählte sie ihre Stiche. Es waren mindestens sechs, die meisten an den Beinen.
Sie wusste nicht, wie lange sie im Teich gekauert hatte, als sie plötzlich eine schrille Stimme hörte. „Was, um Himmels willen, ist hier los?“ Eine Frau kam aus dem Haus gelaufen.
Rosa hätte Mrs. Carmichael in ihrer frisch gestärkten Haushälterinnen-Uniform beinahe nicht erkannt. Die Familie Carmichael wohnte in der gleichen Straße wie die Capolettis, und normalerweise sah Rosa Mrs. Carmichael immer nur in Kittelschürze und Pantoffeln auf ihrer Veranda stehen, wenn sie ihre Jungs zum Essen rief. Hier, wo es die riesigen Villen mit Meeresblick gab, war alles anders. Alles war sauberer und ordentlicher, sogar die Menschen.
Außer Rosa selbst. Als sie ans Ufer des Teichs watete und dabei den Schlamm zwischen ihren Zehen spürte, wusste sie, dass sie hier fehl am Platz war. Dreckig, barfuß und bis auf die Haut durchnässt, mit Bienenstichen und Kratzern übersät, gehörte sie überallhin, nur nicht hierher.
Dann blieb sie stehen, tropfnass, und sah zu, wie Mrs. Carmichael auf sie zugestürmt kam.
„Was soll ich bloß mit dir machen, Rosa Capoletti?“, rief sie. Rosa merkte, dass sie wütend war, sich aber mühsam beherrschte. Alle Leute versuchten momentan, besonders verständnisvoll und geduldig mit ihr zu sein, weil ihre Mutter am Valentinstag gestorben war. Sogar Schwester Baptista hatte versucht, etwas netter zu sein.
„Ich kann mich mit dem Gartenschlauch abspritzen“, schlug Rosa vor.
„Gute Idee. Ich hoffe, du hast keinen Koi zerquetscht.“
„Keinen was?“
„Keinen der Fische.“ Mrs. Carmichael schüttelte den Kopf. „Komm, gehen wir.“
Während Rosa hinter Mrs. Carmichael hertrottete, sah sie plötzlich in einem der Fenster der Villa einen Geist. Ein kleiner, blasser Mensch mit rundem
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