UND ES WAR SOMMER - Wiggs, S: UND ES WAR SOMMER
passiert war, war dies hier kein Anlass zu heulen.
Mrs. Carmichael holte einen Kamm und begann damit, Rosas langes, dichtes lockiges Haar zu entwirren. Rosa biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz laut aufzuschreien. „Das ist ja ein schönes Durcheinander“, seufzte Mrs. Carmichael. „Sag mal, kümmert sich dein Vater denn nicht …“
„Ich mache das selbst“, unterbrach Rosa sie und bemühte sich, dabei möglichst selbstbewusst zu klingen. „Paps weiß nicht, wie man Haare bürstet.“
„Verstehe.“
Rosa presste die Lippen zusammen und starrte auf den weißen Holzboden der Veranda. „Mamma hat mir gezeigt, wie man einen Zopf flicht. Als sie krank war, durfte ich zu ihr ins Bett, unddann hatsiemichfrisiert.“Was Rosa Mrs. Carmichael nicht erzählte, war, dass Mamma zum Schluss zu schwach gewesen war, um überhaupt noch etwas zu tun. Sie hatte nicht einmal mehr eine Bürste halten können. Rosa erzählte auch nicht, dass die Krankheit nicht nur Mammas Kräfte geraubt hatte, sondern auch Rosas eigenem Leben etwas genommen hatte: das unbeschwerte Lachen, das Wissen, dass man sich im Dunkel der Nacht nicht zu fürchten brauchte, und die Geborgenheit eines Zuhauses, in dem es immer nach frisch gebackenem Brot duftete.
„Alles in Ordnung mit dir, Kleines?“
Rosa schob die Erinnerungen beiseite. „Mamma hat gesagt, dass jedes Mädchen einen Zopf flechten können muss. Aber es ist nicht so leicht, wenn es der eigene Zopf ist.“
Zu ihrer Überraschung drückte Mrs. Carmichael sie nun an sich und strich ihr liebevoll über das nasse Haar. „Ich kann mir vorstellen, dass es schwer für dich ist, Rosa.“
„Ich muss es eben üben.“
„Du wirst es schon schaffen“, sagte Mrs. Carmichael leise. Und da sie – wie alle erwachsenen Frauen – eine Meisterin im Flechten von Zöpfen war, machte sie Rosa einen wunderschönen, regelmäßigen Zopf. „Jetzt gebe ich deine Sachen in den Trockner. Du wartest hier und versuchst, nichts anzustellen.“
6. KAPITEL
Die Haushälterin verschwand wieder im Haus, und Rosa bemühte sich, geduldig auf sie zu warten. Warten war schrecklich. Es war absolut langweilig, und man wusste nie, wann es endlich vorbei sein würde. Sie versuchte, den langen Gürtel des dicken Bademantels enger zu ziehen. Dieses Ungeheuer aus Frottee war viel zu groß für sie. Die Ärmel und der Saum schleiften fast auf dem Boden.
Von drinnen hörte man das Telefon dreimal klingeln. Dann hob Mrs. Carmichael offenbar ab, denn Rosa hörte sie reden und lachen. Das Gespräch schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Wahrscheinlich hatte Mrs. Carmichael schon vergessen, dass Rosa auf sie wartete.
Die Verandatür zur Küche war nur angelehnt. Rosa gab ihr mit dem Fuß einen kleinen Schubs, und die Tür ging – fast wie von selbst – auf. Was dann zu sehen war, beeindruckte Rosa sehr: Die Küche war riesig und blitzte nur so vor glänzendem Chrom und strahlendem Weiß. Die Montgomerys schienen jedes nur erdenkliche Utensil zu besitzen, das je für eine Küche erfunden worden war. Es gab unzählige Siebe und merkwürdig gebogene Löffel, funkelnde Töpfe, eine unglaublich große Menge von Messern, Pfannen in vielen verschiedenen Formen und einen Stapel schneeweißer Geschirrtücher.
Junge, Junge, dachte Rosa. Das würde Mamma gefallen. Sie war die beste Köchin der Welt gewesen. Beim Kochen hatte sie abends immer „Funiculi, Funicula“ gesungen, und jeden Mittwoch hatte es Pasta Puttanesca und selbst gebackenes Brot dazu gegeben. Rosa hatte sich nichts Schöneres vorstellen können, als Seite an Seite mit ihrer Mutter in der blitzblanken Küche im Haus in der Prospect Street zu stehen und den Nudelteig auszurollen oder an Winternachmittagen eine Pizza Calzone zu backen, in deren Füllung sie immer eine Prise Basilikum oder ein bisschen Fenchel gegeben hatten. Wie eine unauslöschliche Momentaufnahme hatte sich ihr das Bild ihrer Mutter eingeprägt, wie sie an der Spüle gestanden und mit einem sanften, ein wenig geheimnisvollen Lächeln aus dem Fenster gesehen hatte. Mit ihrem „Mona-Lisa-Lächeln“, wie Paps dazu gesagt hatte. Rosa hatte nie so richtig nachvollziehen können, warum er es so bezeichnet hatte. Sie hatte das Bild der Mona Lisa einmal auf einer Postkarte gesehen und sich gedacht, dass Mamma bei Weitem hübscher war.
Rosa wagte sich weiter hinein, betrachtete staunend die hohe Decke, ließ ihre Finger über die Kante der langen Arbeitsplatte gleiten und stellte sich
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