UND ES WAR SOMMER - Wiggs, S: UND ES WAR SOMMER
sich damit hinter der Theke gemütlich. Wenn jemand hereinkam, schob sie das Buch rasch unter den Tresen und hoffte, dass niemand das grellrosa Cover mit dem Liebespaar bemerkte. Jemand, der bald auf die „Brown University“ ging, konnte doch unmöglich Liebesromane lesen.
Ein paarmal hätte sie fast zum Telefon gegriffen und Linda angerufen. Aber sie war noch nicht bereit, irgendjemandem zu erzählen, dass Alex wieder da war. Stattdessen rief sie zu Hause an und hinterließ ihrem Vater eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Sie würde heute später nach Hause kommen.
Wenn sie bloß eine Mutter oder eine Schwester gehabt hätte, dachte sie. Es gab gewisse Dinge im Leben, für die man eine Mutter brauchte. Zum Beispiel wenn man seine erste Periode bekam oder den ersten BH kaufen musste. Das waren keine Themen, die man unbedingt mit den Nonnen in der Schule oder mit Paps besprechen wollte. Und manchmal hatte man das Gefühl, man müsste platzen, wenn man Mamma nicht alles auf der Stelle erzählen konnte, was in einem vorging. Wie beispielsweise, dass Alex Montgomery wieder da war und sich von einem schmächtigen Stubenhocker in einen griechischen Gott verwandelt hatte.
Sie bediente eine laut durcheinanderplappernde Familie, die gerade ein Ferienapartment in der Pocono Road bezogen hatte. Dann kam eine spindeldürre Frau, die genaue Instruktionen gab, wie viele Sardellen sie auf ihrer Pizza wollte. Danach unterhielt sich Rosa noch ein wenig mit dem Rentner, der immer die Zeitung der örtlichen Handelskammer vorbeibrachte, doch ihre Gedanken schweiften immer wieder zu Alex ab. Sie konnte es nicht fassen, wie sehr er sich verändert hatte, und fragte sich, ob er wusste, dass er wie einer der Romanhelden aussah, die auf ihren Taschenbüchern abgebildet waren. Nein, vermutlich nicht. Er hatte schon im Alter von zehn Jahren griechische Sagen gelesen. Mittlerweile las er wahrscheinlich Proust. Auf Französisch.
Die Zeit schlich weiter dahin. Am frühen Abend sah sie von ihrem Platz hinter der Theke aus zu, wie die Badegäste am Strand mit ihren Strohtaschen und Kühlboxen zu ihren Autos gingen. Die untergehende Sonne tauchte das Meer in goldenes Licht, und der Leuchtturm weiter unten an der Küste schickte sein Signal über das Wasser – zweimal lang, zweimal kurz, immer im Abstand von neun Sekunden.
Endlich war es sieben Uhr, und Keisha, die Rosa ablöste, trat ihren Dienst an. Im Sommer hatte Mario bis Mitternacht auf, sieben Tage die Woche.
„Nicht viel los heute, oder?“, erkundigte sich Keisha.
„Nein, sehr wenig.“ Rosa zog ihre Schürze aus und nahm das Haarnetz ab. Sie bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, wie eilig sie es hatte.
Keisha war eigentlich nicht von hier. Ihre Familie lebte in Hartford und kam nur im Sommer nach Winslow. Ihr Großvater war Mitglied bei der Bürgerrechtsbewegung Black Panther gewesen – ein Umstand, der Keisha ein bisschen peinlich zu sein schien. Später hatte er dann seine Memoiren veröffentlicht und war Kongressabgeordneter geworden. Ihre Eltern waren beide Anwälte, und Keisha hatte vor, am renommierten „Amherst College“ zu studieren. Trotzdem benahm sie sichnie wie der Rest der Reichen und Schönen, die Winslow im Sommer bevölkerten, sondern war erfrischend normal.
„Also, bis morgen“, sagte Rosa.
„Tschüss.“ Keisha setzte sich auf einen Hocker hinter der Theke. In diesem Moment fiel Rosa ein, dass sie ihr Buch unter dem Tresen vergessen hatte. Wie peinlich, wenn jemand es fände! Doch Keisha hatte es bereits entdeckt, sah sich das Cover an und begann zu blättern. „Cool“, murmelte sie, machte es sich auf ihrem Hocker bequem und begann sofort zu lesen.
Tja, so konnte man sich täuschen, dachte Rosa, während sie die Tür hinter sich zuzog. Draußen war die Luft angenehm frisch, und es roch nach Meer. Am Strand standen langbeinige, braun gebrannte Mädchen um ein Lagerfeuer, unterhielten sich und rösteten Marshmallows. Ein paar Jungen kickten einen Fußball hin und her. Urlauber, die die Einheimischen auf ihrem Weg von der Arbeit nach Hause gar nicht wahrnahmen.
Alex war weit und breit nirgendwo zu sehen. Rosa schaute zum Parkplatz hinüber, auf dem nur noch wenige Autos standen. Bis auf ein Pärchen, das Händchen haltend an ihr vorbeiging, war niemand zu sehen.
Immer noch keine Spur von Alex. Vielleicht hatte sie es sich nur eingebildet, dass er vorhin in der Pizzeria gewesen war. Eigentlich hatte dieser Typ weder so ausgesehen noch so
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