Und fuehre uns in die Versuchung
dass er verstanden hatte. Anstatt hier hingerissen grinsend im Einfallsreichtum der Frau seines Herzens zu schwelgen. Aber was sollte er singen? Er wollte gerade anfangen, sein Gedächtnis nach relevanten Psalmen zu durchforsten, als Mathilda ihn zum Einhalten brachte:
„Vernimm mein Schweigen, mein König und mein Gott; denn ich will vor dir beten.“
'Schreien'. Im Original hieß es 'Schreien', nicht 'Schweigen'. Das war die Antwort auf seine Frage, oder? Er durfte nicht antworten, sondern sollte schweigen. Es war wunderbar, wie sie mit den Worten der Bibel hantierte, um ihm mitzuteilen, was sie ihm in der klösterlichen Umgebung anders nicht hätte sagen können.
Befriedigt lehnte er sich in der Bank zurück, nun sicher, dass er sich ruhig verhalten und abwarten sollte, bis ...
Die Tür. Die zum Frauenbalkon. Jemand hatte die Kirche betreten. Die Augen verengend, entschlüsselte Arno die Schritte der Ankommenden.
Während die Stimme der Frau, die er liebte, klar und vernehmlich von der Empore scholl:
„Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach; heile mich, Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken,
und meine Seele ist sehr erschrocken. Ach du, Herr, wie lange!“
Mathilda verstummte. Um sich ihrer Äbtissin zuzuwenden offenkundig, jedenfalls murmelte die etwas, eine Frage wohl, denn Mathilda antwortete. Doch so sehr Arno auch die Ohren spitzte, verstehen konnte er nichts. Die Erwiderung der Örtlerin vielleicht? Nein, sie sprach zu leise – und dann erhob sich wieder Mathildas Stimme über alles, den bereits begonnenen Psalm wieder aufnehmend:
„Meine Gestalt ist verfallen vor Trauern und ist alt geworden; denn ich allenthalben geängstigt werde.
Weichet von mir, alle Übeltäter; denn der Herr hört mein Weinen ...“
Die Tür fiel zu.
„Ich preise dich, Herr; denn du hast mich erhöhet und lassest meine Feinde sich nicht über mich freuen“, kommentierte Mathilda prompt.
Arno war aufgestanden. Sein Herz schlug hart, nun, da sie fürs erste in Sicherheit waren, von neuer Aufregung erfüllt. Was sollte er jetzt tun? Er hatte so wenig Erfahrung mit solchen Situationen ...
„Du tust mir kund den Weg zum Leben; vor dir ist Freude die Fülle und lieblich Wesen zu deiner Rechten ewiglich.“
'Freude', das war gut, und 'Fülle' und 'lieblich'. Und Mathilda sang all das ganz selbstverständlich und leicht – während Arno, der die Bibel doch wohl erst recht auswendig kennen sollte, stumm um irgendwelche aufschlussreiche Worte, Verse, Psalmen rang.
„Arno, wie lang willst du mein so gar vergessen? Wie lange verbirgest du dein Antlitz vor mir?“
Sie war wunderbar. Nun öffnete sich sein Mund ganz von allein und sang aus demselben Psalm:
„Ich hoffe aber darauf, dass du so gnädig bist;
Mein Herz freuet sich, dass du so gerne hilfest.“
„Ich will dem Herrn singen, dass er so wohl an mir tut“, setzte sie den Psalm direkt fort. Und auch wenn Arno den Namen Gottes nicht mehr über die Lippen brachte, fühlte es sich an, als ob sie am Ziel wären.
Er war nach vorn neben den Altar getreten, nun war es ganz leicht, Mathildas Blick aufzufangen.
„Mein Herz freuet sich, dass du so gerne hilfest“, wiederholte sie, und sie dabei auch noch übers ganze Gesicht strahlen zu sehen, ließ ihn im ersten Moment erschrecken. Selig wirkte sie, ganz und gar glücklich, wie sie, ihn nicht aus den Augen lassend, langsam rückwärts zur Treppe hinunter zur 'Frauentür' schritt.
„Ich will dir singen, dass du so wohl an mir tust.“
Er konnte gar nicht anders. Seine Füße hatten sich auch ohne sein Zutun in Bewegung gesetzt. Unverwandt seine Augen in ihren festhaltend, sorgte Mathilda dafür, dass sie beide synchrone Schritte machten, sich voneinander entfernten in Richtung der jeweiligen Tür, die sie unausweichlich zueinander führen würde. Während all dessen strahlte ihr Gesicht, jubilierte ihre Stimme, sang von Freude und Seligkeit und Glück.
Sie war so voller Vertrauen, so ohne jeden Zweifel davon überzeugt, dass er sie glücklich machen konnte. Dabei war es doch genau das, was nicht sicher war. Arno hatte noch nie eine Frau glücklich gemacht. Im Gegenteil. Die eine Frau, bei der es versucht hatte, hatte sich von ihm abgewandt und einen Besseren genommen.
Mathilda hatte die Tür zum Abgang erreicht, tastete hinter sich, um – noch immer ohne sich abzuwenden – langsam rückwärts zur Treppe zu schreiten.
Und während er auf seinem Weg hinunter ins Kirchenschiff verstummte, ertönte
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