Und fuehre uns in die Versuchung
Sollte seine unausgesprochene Lüge ihm wirklich auch hier zu Hilfe kommen?
„So?“ Palgmacher war ebenfalls entgeistert stehengeblieben.
„... was das Potential eines Menschen für göttliche Visionen angeht“, setzte die Örtlerin ihren Satz fort, mit ihrem versonnenen Lächeln Arnos Mundwinkel endgültig nach oben befördernd.
„Nun ja ...“, ließ er sich bescheiden vernehmen.
„Lassen wir uns nicht vom eigentlichen Thema ablenken“, mischte sich Palgmacher wieder ein.
Doch jetzt hatte Arno Oberwasser. Sein Kopf war wieder klar. „Ich habe Altomünster in dem Glauben verlassen, dass es für meine Beziehung zu Gott notwendig sei, mich zusammen mit meinem alten Beichtvater zu besinnen“, versicherte er der Äbtissin in absolut gelassenem Ton, sogleich die Gelegenheit zu einem abschließenden Seitenhieb auf den Prior nutzend: „Und zwar deshalb, weil es hier im Kloster keinen anderen Pater gab, mit dem ich das hätte tun können.“ Heussgen würde ihm diese Halbwahrheit verzeihen – schließlich hatte er ihn sogar zu Bertram geschickt.
„Ich vertraue Euch, Pater Wayden“, lächelte die Örtlerin ihm zu.
Arno erwiderte ihr Lächeln. Palgmacher schnaubte erneut.
Die Örtlerin schwenkte ihr Wohlwollen auf ihn um. „Drei Mönche sind zu Luther übergelaufen – das könnte man durchaus als ernste Krise bezeichnen. In einer solchen Situation solltet Ihr Eure Kräfte nicht verschwenden, indem Ihr den falschen Feind bekämpft, Pater Palgmacher.“
Jetzt war Arnos Moment gekommen. „Ich schlage vor, eine Extrabeichte einzuberufen, um jedem Ordensmitglied die Gelegenheit zu geben, sich über eventuelle abtrünnige Gedanken klarzuwerden.“ Das hatte doch durchaus logisch geklungen, oder?
„Was soll dieser Aufwand? Es reicht völlig, dafür zu sorgen, die Tore verschlossen zu halten. Zusätzlich verhängen wir ein absolutes Silentium, verbunden mit einem Versammlungsverbot außerhalb des Refektoriums. In einer Weile wird sich dann ...“
„Euere Idee halte für sehr gut, Pater Wayden. Im heutigen Kapitel werde ich jede Schwester ermutigen, sich ebensolcher Gedanken selbst anzuklagen. Die Beichte werden wir morgen anberaumen. Als zusätzliche Sicherung“, wandte sie sich dann an ihren Prior, „werde ich Euere Vorschläge umsetzen. Folglich bleiben Bibliothek und Skriptorium bis auf Weiteres geschlossen – wie Ihr das im Männerkonvent handhabt, sei Euch überlassen. Und Pater Wayden ... es versteht sich von selbst, dass die Ausnahmeregelung für Mathilda von nun an ausgesetzt wird.“
Arno spannte die Lippen an und nickte.
Der letzte Akt
Es war ganz furchtbar. Mathilda biss sich in die Handknöchel, um vor Sorge nicht laut aufzustöhnen, während sie neben Katharina auf dem Boden des Kapitelsaales kniete und den Rosenkranz betete.
„Ich wünsche die Stimmen Aller zu hören – und zwar laut“, hatte Mutter Örtlerin angekündigt und argwöhnisch abgewartet, dass jede einzelne Nonne wirklich deutlich genug sprach, ehe sie sich selbst hingekniet hatte, das Gesicht in Richtung Altar – und damit ihnen den Rücken zugewandt. Einen Rosenkranz zu beten, war für Mathilda schon lange kein Problem mehr. Sie hatte inzwischen genau im Gefühl, wie lange ein Gesätz war – und musste die Perlen dafür gar nicht mehr abgreifen. Das war jetzt von Vorteil. Mathilda konnte ohne Konzentration, rein mechanisch mitsprechen, und gleichzeitig mit Katharina bestürzte Blicke tauschen und sogar Handzeichen. Ganz vorsichtig selbstverständlich nur, denn die anderen Nonnen würden in der Lage sein, sie zu sehen und gegebenenfalls zu verraten.
„Gegrüßet seist du, Maria,
voll der Gnade, der Herr ist mit dir ...“
Sie hatten es ohne Zwischenfall geschafft, in ihre Zellen zu kommen, wo sich Mathilda in ihrer Verzweiflung aufs Bett geworfen hatte. Verdammt, verdammt, verdammt! Warum hatte ihr Fluchtversuch so fehlschlagen müssen? Und wie würde es jetzt weitergehen?
Ihre aufkeimende Sorge, Arno könnte mit Heussgen zusammen geflohen sein, war glücklicherweise schon während Vigil, als einzig seine Stimme zu hören gewesen war, wieder verflogen. Wie geschickt aber auch von ihm. Ihr hatte er damit Entwarnung zugerufen, die Äbtissin jedoch alarmiert. Die augenblicklich davongeeilt war. Lauter verdutzte Nonnen waren zurückgeblieben, hatten nur noch mühevoll Vigil zu Ende gebetet. Laudes war bereits verschiedenen Gerüchten zum Opfer gefallen. Dass unter den Brüdern eine schlimme Krankheit
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