Und jeder tötet, was er liebt
und es tat fast weh. Das Herz konnte einem brechen dabei. Dann ließ er sie auf einmal los und ging zu Tom hinüber. Anna wollte den Abschied der beiden nicht stören. Sie verließ das Haus, um draußen in der Einfahrt auf sie zu warten. Als sie wenig später hinauskamen, gab Jan ihr im Vorübergehen noch einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, und Tom legte seinen Arm um sie. Er winkte Jan noch ein letztes Mal zu, bevor dieser mit seinem Volvo hinter der nächsten Ecke verschwand. Als sie allein waren, löste sich Tom sofort wieder von ihr und ging ins Haus zurück. Anna stand noch immer ganz starr. Eine flüchtige und unverbindliche Berührung wie eben war das Letzte, was sie von Jan wollte. Ausgerechnet in diesem Augenblick, in dem alles besiegelt schien, spürte sie, wie stark ihre Gefühle für ihren Schwager waren. Sie musste versuchen, sich nichts anmerken zu lassen. In keinem Fall sollte Tom etwas davon mitbekommen, wie sehr sie Jan schon jetzt vermisste.
13
Alfons Lüdersen hatte sich auf Esthers altem Sofa ausgestreckt, das seit ihrem Tod in einer Ecke des Wohnzimmers ein Schattendasein fristete. Wie oft hatte er sie gedrängt, dieses braune Ungetüm wegzuwerfen, schließlich passte es mit seinem abgescheuerten Veloursbezug schon lange nicht mehr in den ansonsten mit modernen Designerstücken eingerichteten Raum. Jetzt streichelte er gedankenverloren über den Stoff. Die Frage, warum dies Esthers Lieblingsplatz gewesen war, konnte er sich nun selbst beantworten. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick in die Natur und lag gleichzeitig bequem wie in einem Himmelbett. Er schämte sich im Nachhinein für seine Nörgeleien. Diese ganzen Kleinigkeiten, auf die er in der Vergangenheit so viel Wert gelegt hatte, schienen ihm nun seit Esthers Tod lächerlich zu sein.
Warum hatte er ihr so selten gezeigt, wie sehr er sie liebte? Warum hatte er nicht versucht, sie zu retten? Sein Blick ging in den Garten hinaus, blieb jetzt am Sommerflieder hängen. Drei prächtige Zitronenfalter sonnten sich auf seinen Blüten. Darunter, an der schattigen Stelle, war das Gras mittlerweile hoch gewachsen. Alfons Lüdersen vergrub sein Gesicht in den Händen. Und wenn er nun doch mit Wilfried sprach? Die andere Sache konnte er vielleicht auslassen, sie einfach nicht erwähnen. Vielleicht hatte Wilfried eine Idee, wer hinter all dem stecken könnte. Gemeinsam würden sie schon herausbekommen, wer Esther auf dem Gewissen hatte. Nein, das war unmöglich. Womit sollte er Wilfried erklären, dass er erpressbar gewesen war?
Frau Wagner schlug gerade die Haustür zu, er hatte ihr für den Nachmittag frei gegeben. Sie hatte trotzdem darauf bestanden, den Korb Bügelwäsche mitzunehmen, und er war mit allem einverstanden gewesen, wenn sie nur endlich ging. Alfons Lüdersen gähnte. Die schlaflose Nacht im Gefängnis hatte ihre Spuren hinterlassen, heute würde er nicht mehr zur Arbeit ins Büro fahren. Er durfte sich keinen Fehler mehr erlauben. Doch so sehr er sich auch zu konzentrieren versuchte, es war vergeblich. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab und landeten wie selbstverständlich bei Esther. Als sie noch lebte, war ihm das selten passiert.
Sein Leben lang hatte er für seine Ziele gekämpft, aber mittlerweile überlegte Alfons Lüdersen, ob es nicht vielleicht die falschen Ziele gewesen sein könnten. Die meisten Leute nahmen sich viel zu wichtig, er selbst gehörte leider auch zu dieser Kategorie. Unter diesem Aspekt betrachtet, hatte Esther einen guten Weg eingeschlagen. Sie hatte sich auf die Leiden anderer konzentriert und sich möglicherweise sogar gerettet, indem sie ihnen half. Der Mensch wurde zum Menschen, weil er mitfühlen konnte, Intelligenz war nicht das Entscheidende. Wir müssen uns fragen, wer wir sind, dachte Alfons Lüdersen. Über diese Frage, die ihm auf einmal existenziell erschien, hätte er sich gern mit Esther unterhalten. Sie wäre in der Lage gewesen, ihm eine Antwort zu geben, eine von vielen möglichen Antworten. Alles, was sie tat, hatte Hand und Fuß gehabt, wenn man es nur, so wie er jetzt, aus einem anderen Blickwinkel betrachtete. Sie war dem Leben in seiner Essenz nähergekommen, um ihr eigenes darüber zu verlieren. Welcher Teufel hatte sie nur geritten, sich auf einmal so in seine geschäftlichen Angelegenheiten reinzuknien? Vielleicht, wenn sie das nicht getan hätte, könnte sie sonst heute noch am Leben sein.
Das Telefon schreckte Alfons Lüdersen aus seinen Gedanken
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