Und keiner wird dich kennen
Ihre Mutter sieht aus, als bräuchte sie ganz dringend eine Zigarette. »Das letzte Mal habe ich es an alle möglichen Verlage gesandt, aber das war wohl nicht so praktisch. Es gibt auch Literaturagenten, die das Anbieten für dich erledigen und dann den Vertrag aushandeln ...«
»Klingt gut, dann mach das doch mit diesen Agenten. Muss man denen was bezahlen?«
»Ich glaube, die bekommen einen Anteil vom Honorar.« Lila weicht Majas Blick aus, warum das? Irgendetwas ist da doch im Busch!
»Macht ja nichts, oder?«, meint Maja. Sie beobachtet ihre Mutter und versucht zu erraten, was los ist. Hat sie etwas von Robert Barsch gehört? Nein, dann wäre sie fertiger. Ist ein Bild von ihnen im Internet gelandet? Hat Elias sich verplappert? Nein, ihr selbst ist das passiert, obwohl Maja das ihrer Mutter nur ungern beichten würde. Rückgängig machen kann sie es sowieso nicht. Und eigentlich war es ja auch nur ein kleines Detail, nicht sehr wichtig, schnell vergessen.
»Ach, übrigens ... noch was ...«, beginnt Lila. Aha, jetzt kommt’s. Majas ganzer Körper spannt sich an und die alte Angst kriecht in ihr hoch wie eine Legion schwarzer Spinnen.
»Jetzt bin ich ja mit dem Manuskript fertig, und Geld könnten wir auch gebrauchen – wer weiß, wann durch die Schreiberei irgendwas reinkommt«, sagt Lila. »Deshalb habe ich mich nach einem Nebenjob umgeschaut. Stell dir vor, ich habe auch gleich was gefunden.«
»Was denn?«, fragt Maja misstrauisch. Irgendeinen Haken hat die Sache doch!
»In einem Lokal in der Nähe. Ich übernehme die Abendschicht und bin dann so zwischen Mitternacht und eins zu Hause. Das ist richtig praktisch, ich könnte tagsüber Artikel schreiben oder einen neuen Roman anfangen, nachmittags hole ich dann wie gewohnt Elias ab.«
Doch Maja hat schon begriffen, was das bedeutet. Shit, das ist jetzt wirklich zu viel! Meint sie das ernst? »Aber das heißt, dass ich abends nicht mehr wegkann, das heißt es doch, oder?«, bricht es aus ihr heraus. »Ich muss als unbezahlter Babysitter hierbleiben, und dass ich meine Freunde nicht mehr sehe, ist einfach Pech, oder wie?« Eigentlich hatte sie auch vor, sich einen Job zu suchen, vielleicht auch zu babysitten, aber das kann sie jetzt vergessen!
»Ich werde natürlich an ein oder zwei Abenden die Woche daheim sein ...«
»Was ist mit Samstagabend?«
»Freitag und Samstag muss ich natürlich arbeiten, da ist Hochbetrieb.«
Das heißt, sie kann die meisten Partys vergessen, und wenn die anderen in einen Club gehen, muss sie ihnen sagen, dass sie leider auf ihren kleinen Bruder aufpassen soll. Na wunderbar!
»Es tut mir leid«, sagt Lila. »Für mich bedeutet es auch, zurückstecken zu müssen, eigentlich wollte ich mich zu einem Zumba-Kurs anmelden, aber das kann ich jetzt vergessen ...«
Doch Maja hört gar nicht mehr richtig zu, das Elend schlägt über ihrem Kopf zusammen wie eine düstere Woge, zieht sie nach unten, nach unten, immer weiter nach unten.
»Natürlich ist das nur eine vorübergehende Lösung«, fährt Lila fort. »Bis ich meinen Roman verkauft habe, dann verdiene ich ja damit Geld.«
»Oder auch nicht!«
Lilas Mund ist schmal und hart geworden, ihre Augen blicken kühl. »Maja, hör mal zu, die Situation ist für uns alle schwierig, die Hauptsache ist doch, wir schlagen uns irgendwie durch. Also reiß dich zusammen! Du bist doch sonst so vernünftig. Irgendwann wird sich alles wieder einpendeln und wir ...«
»Falls du es vergessen hast, ich heiße Alissa ! Kannst froh sein, dass gerade niemand zugehört hat!« Maja stürmt in das jämmerliche Zimmer, das auch ihres sein soll, sich aber nicht so anfühlt. Nicht mal abschließen kann sie, den Schlüssel hat der letzte Mieter verschlampt. Ein herumliegendes Lego-Teil bohrt sich schmerzhaft in ihren Fuß, und auf ihrem Bett – auf ihrem! – liegen irgendwelche Papierschnipsel von Elias’ letzter Bastelei. Maja fegt sie zu Boden, wie bunte Schneeflocken segeln sie auf den Teppich.
Mit zitternden Händen holt sie Lorenzos Bild unter ihrem Pulloverstapel hervor. Sie vermisst Lorenzo so unendlich, was würde sie darum geben, jetzt bei ihm zu sein, seine Arme um sich zu fühlen! Ihre Gefühle für Ben sind ... waren ... doch nur ein blasser Abklatsch davon, was sie mit Lorenzo hatte. Wie konnte sie ihn nur aufgeben? Wie konnte sie nur?
Manchmal merkt man erst, dass es die große Liebe war, wenn es zu spät ist. Der Gedanke brennt sich durch sie hindurch und zurück
Weitere Kostenlose Bücher