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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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fragte
Lewis.
    Sie zuckte die schmalen
Schultern.
    «Machen Sie sich Sorgen um
ihn?»
    «Alle machen sich Sorgen um
ihn.»
    «Wie lange nimmt er schon
Drogen?»
    «Etwas über ein Jahr.»
    «Woher hat er das Geld?»
    «Fragen Sie mich was
Leichteres.»
    «Kein sehr guter Sohn, wie?»,
meinte Morse.
    Sie schüttelte mutlos den
sicher einmal sehr hübschen Kopf.
    «Bekommt er etwas von Ihnen?»
    «Ich hab nichts, und das weiß
er auch. Er ist nicht dumm.»
    «Und das da?» Morse zeigte auf
die leere Bierdose, die leere Zigarettenschachtel.
    «Keine Ahnung.»
    Morse stand auf. Lewis tat es
ihm nach.
    «Wie lange...?» Morse deutete
mit einer Kopfbewegung auf den Rollstuhl.
    «Sechs Jahre.»
    In der schmuddeligen Diele
blieb Morse vor dem Bilderrahmen stehen, in dem kein Bild, sondern eine Urkunde
steckte.
     
     

     
    Zum zweiten Mal an diesem Tag
sah Lewis eine Frau mit nassen Augen, und zum zweiten Mal an diesem Tag lief
Morse der vertraute Schauer erwartungsvoller Erregung über den Rücken.
    Er hatte sich schon zum Gehen
gewandt. Jetzt aber drehte er sich noch einmal zu der früheren Sportlerin um.
«Das Schicksal hat es offenbar nicht sehr gut mit Ihnen gemeint.»
    «Den Eindruck hab ich auch.»
    «Es ist wichtig, dass Ihr Sohn
sich genau an die Bestimmungen der polizeilichen Schutzanweisung hält. Das ist
Ihnen klar?»
    «Ja, schon gut.»
    «Und falls Sie eine kleine
Aufmunterung brauchen, Mrs. Holmes, will ich Ihnen ein großes Geheimnis
verraten: Ich war etwa in seinem Alter, als ich mit dem Trinken angefangen habe
— genau genommen sogar ein Jahr jünger.»
    Doch für die Frau, die jetzt
ihren Rollstuhl zur Haustür manövrierte, schien dieses Geständnis nur ein
geringer Trost zu sein.
    Morse überreichte ihr seine
Karte. «Falls es etwas gibt, das Sie vergessen haben, mir zu sagen, oder das
Sie mir nicht sagen wollten...»
    Während die beiden
Kriminalbeamten über den zugemüllten Gartenpfad auf das hölzerne Törchen
zugingen, in dem bis auf zwei alle senkrechten Latten fehlten, rätselte Lewis
an diesen letzten Worten herum, doch Morse schien tief in Gedanken, und Fragen
waren deshalb, wie der Sergeant sehr wohl wusste, momentan nicht angebracht.

Kapitel
55
     
    Darum
auch wir, dieweil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasset uns
ablegen die Sünde, so uns immer anklebt und träge macht.
    (Brief
des hl. Paulus an die Hebräer, 12.1)
     
    Lewis war nicht böse darüber,
dass sich sein Vorgesetzter am nächsten Tag frei genommen hatte und nicht im
Büro erscheinen würde. Seine bevorzugte Methode der Alibibestätigung war, wie
wir wissen, von Morse — wenn auch ohne besondere Begeisterung — gebilligt
worden, und Lewis war bereit und willens, diesen Weg allein weiterzugehen.
    Es sah jetzt so aus, als müsse
man sich von der vereinfachenden Hypothese von Morse, die Barron in der Rolle
eines Doppelmörders besetzt hatte, ganz verabschieden. Natürlich hätten sie es
leichter gehabt, wenn es tatsächlich Barron gewesen wäre und wenn Barron
seinerseits von dem Drahtzieher hinter der ganzen Geschichte umgebracht worden
wäre. Von Frank Harrison beispielsweise. Und warum nicht Frank Harrison? Von
den Gäulen, die noch im Rennen waren, verfügte nur er über ein Bankkonto, das
ihm regelmäßige Schweigegeldzahlungen erlaubte. Angesichts der potenziellen
Gefährdung des globalen Aktienmarkts konnte der Zustand dieses Kontos sich
natürlich früher oder später verschlechtern. Eins der Gesetze der
Wirtschaftswelt lautete, wie Lewis wusste, dass Leute, die haufenweise Geld
besaßen, ohne weiteres auch haufenweise Geld verlieren konnten. Dieses Gesetz
war auch auf denjenigen Mitbürger anwendbar, der in wohlverstandenem Eigeninteresse
bislang einen Teil seiner Gelder an andere weitergeleitet hatte — an Flynn, an
Repp, vielleicht an Barron. Auf wunderbare Weise hätte er dann zwei von der
Gehaltsliste streichen können, und falls der dritte...
    Lewis konnte diesen von Morse
entwickelten Gedankengang durchaus nachvollziehen, nur war er, wie der große
Mann gestern Abend praktisch selbst zugegeben hatte, leider falsch. Denn da war
nun diese dramatische Wendung: Barrens Tod war ein Unfall gewesen. Und dass
Barren zufällig zu ebendem Zeitpunkt von einer Leiter gestoßen wurde, zu
dem ein anderer geplant hatte, ihn in verbrecherischer Absicht aus dem
Weg zu räumen, war sogar für den zufallsgläubigen Morse zu unwahrscheinlich.
    Angesagt war deshalb jetzt ein
ziemlich altmodisches Vorgehen: ein paar

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