Und morgen am Meer
jeder sah, dass das reine Provokation war –, doch niemand erschien, um ihn zu holen. Frau Heinrich war während der ganzen Zeugnisausgabe blass wie eine Kalkwand, aber sie sagte nicht mal dann was, als sie Lorenz das Zeugnis überreichte.
Nach der Zeugnisausgabe war auf dem Schulhof kein Herankommen an Lorenz. Wieder umringten ihn die Jungs und auch ein paar Mädchen, als hätte er Dave Gahan getroffen, und quetschten ihn nach der Reaktion der Lehrer aus.
»Also wenn du mich fragst, ich fand das ziemlich daneben«, sagte Sabine, während sie in ihrer Schultasche wühlte. »Dieser Anzug war echt das Letzte.«
»Aber es war ein Anzug!« Das letzte Wort zog ich genüsslich in die Länge. »Verstehst du? Er hat nur getan, was man von ihm verlangt hat. Dass der Anzug hässlich war, ist eine andere Sache, aber er ist wenigstens nicht in seiner Jeans rumgelaufen. Für den hässlichen Anzug können sie ihn immerhin nicht in den Jugendwerkhof stecken.«
»In den was?«, wunderte sich Sabine.
Jetzt fiel mir wieder ein, dass ich ihr gar nicht davon erzählt hatte.
»Ja, sie haben ihm gedroht, ihn in den Jugendwerkhof zu stecken wegen seiner Klamotten. Also hat er was dagegen getan. Und jetzt sind eh Ferien, da können sie ihm nichts mehr.«
Sabine schüttelte ungläubig den Kopf. »Der spinnt doch! Die stecken doch niemanden in den Jugendwerkhof wegen der Klamotten!«
»Er hat es mir so gesagt.«
»Dann hat er dich angeschwindelt.«
»Das glaube ich nicht. Mich würde er nie anlügen. Schon gar nicht bei so was.«
Sabine biss sich auf die Lippe. Wahrscheinlich hätte sie mir gern noch was dazu gesagt, aber das verkniff sie sich.
»Hier, hab da noch was für dich.« Ich zog die frisch bespielte Kassette aus der Tasche. »Für den Urlaub.«
Augenblicklich vergaß Sabine all ihren Groll. »Du hast mir was aufgenommen?«
»Ja, als Entschädigung für die andere Kassette.
Ein wenig lag es mir immer noch im Magen, dass ich sie wegen der Claudius-Kassette angeschwindelt hatte – ich hatte behauptet, dass das Band kaputt war –, aber das, was ich aufgenommen hatte, konnte sich sehen lassen. Ich hatte sogar zweimal Modern Talking mit aufs Band gespielt, ihr zuliebe.
»Danke!« Sabine fiel mir um den Hals und drückte mir einen Kuss auf die Wange.
»Wenn du wiederkommst, kriegst du gleich noch eine. Vielleicht bekomme ich inzwischen wieder Kassetten, und Zeit zum Aufnehmen habe ich ja auch, während du es dir im Urlaub gut gehen lässt.«
Wieder zu Hause fühlte ich mich bedrückt. Drei Tage war es her, dass ich Claudius getroffen hatte, aber ich musste immer noch ständig an ihn denken. An ihn und an Ungarn. Irgendwie gehörte eins zum anderen.
Ach, wenn ich Sabine doch nur von ihm erzählen könnte!
Aber was sollte ich erzählen? Dass er mir ein Lied von David Bowie auf die Kassette überspielt hatte? Dass er mir versprochen hatte wiederzukommen?
Das war nichts, worüber man sich länger Gedanken machen musste – aber ich tat es.
Um mich abzulenken, verzog ich mich mit einem leeren grünen Schulheft auf den Balkon unter den Sonnenschirm.
Ich mochte es, wenn Hefte noch vollkommen leer waren und man alle Möglichkeiten hatte, sie mit einer Geschichte zu füllen. Hatte man erst mal begonnen, war das nicht mehr so leicht. Man konnte natürlich die ersten Sätze, die falsch waren, durchstreichen, doch das sah hässlich aus. Riss man die falschen Seiten heraus, sah das Heft nicht mehr so schön aus. Aber das Heft auf meinem Schoß war noch ganz weiß.
Am liebsten wollte ich von Claudius schreiben. Claudius aus Westberlin. Eine Geschichte, die nur auf Papier stattfinden würde.
Wie konnte man sich seinen Tag vorstellen? So, wie es die Fernsehserien zeigen? »Ich heirate eine Familie« zum Beispiel. Oder »Diese Drombuschs«?
Eine Bewegung unten auf der Straße lenkte mich ab. Senfgelber Anzug!
War er seinen Fans endlich entkommen?
»He, Lorenz!«, rief ich ihm vom Balkon aus zu. »Warte mal!«
Lorenz blieb stehen. Mann, in dem Anzug sah er wirklich zu komisch aus! Und wie er hochschaute! Schade, dass ich keinen Fotoapparat hatte!
»Was ist?«, fragte er.
»Willst du kurz hochkommen?«, fragte ich, denn ich musste ihn unbedingt noch wegen seines Aufzugs ausquetschen.
»Nee, komm du runter! Ich jag deinen Nachbarn sonst noch ’nen Schrecken ein!«
Ich legte Heft und Stift auf den Stuhl und flitzte nach unten.
Lorenz hatte wohl gedacht, dass ich nicht kommen würde, jedenfalls war er schon ein gutes Stück
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