Und morgen am Meer
schwach erinnerte ich mich an die ganzen Menschen, die entweder in Tränen aufgelöst waren, um Fassung gerungen oder sich verstohlen mit dem Taschentuch die Augen abgewischt hatten. Ich konnte das damals noch nicht verstehen.
»Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber wenn du mich fragst, weiß ich jetzt, wie es den Leuten dort geht.« Claudius sah mir direkt in die Augen, sodass sich meine Knie auf einmal ganz weich anfühlten und zitterten. Aber das war kein schlechtes Gefühl, sondern ein sehr schönes, und ich wünschte mir, dass dieser Moment niemals aufhören würde.
Ich hatte verstanden, was er damit sagen wollte. Ja, auch mir war grad zum Heulen, dass ich ihn wieder fahren lassen musste.
»Bitte vergiss mich nicht!«, flüsterte ich, und dann vergaß ich mich und fiel ihm einfach um den Hals.
»Das werde ich nicht«, flüsterte er in mein Haar, und seine Arme legten sich warm um meinen Rücken. »Ich verspreche dir, wir werden uns diesen Sommer noch oft sehen. Sooft es mir möglich ist. Und vielleicht, eines Tages …«
Mehr konnte er nicht sagen, denn der Zug fuhr mit lautem Getöse ein. In diesem Augenblick hätte ich ihn am liebsten weiter festgehalten, doch ich konnte nicht. Er gab mir einen Kuss auf die Wange, sah mich noch einen Moment an und sprang dann in den Zug, der ihn fortbrachte von mir, in eine andere Welt.
Strangelove
10. Juli 1989
Claudius
Mehr als eine Woche hatte ich gebraucht, um mir Physik in den Schädel zu pauken. Eigentlich lernte ich ziemlich schnell, doch diesmal war es anders. Meine Konzentration war futsch, da half auch kein Kaffee, denn je wacher ich wurde, desto mehr schweiften meine Gedanken ab zu Milena.
Doch die Prüfung war nun geschafft und ich wieder auf dem Weg zu ihr.
Da die Schönhauser Allee um diese Zeit verhältnismäßig voll war, blieb ich eine Weile unter der Brücke stehen und wartete auf eine Lücke, die groß genug war, um sich nicht wieder Hupen und wütende Rufe einzufangen.
»He, willst du wieder zu Milena?«, fragte plötzlich eine Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich den Punk. Lorenz, Milenas Kumpel.
Wie lange stand er schon an der Wand und beobachtete mich? Oder war er zufällig aus demselben Zug gestiegen wie ich?
Bei seinem Anblick verspürte ich einen eifersüchtigen Stich. Lorenz konnte Milena jeden Tag sehen, ihr Lachen hören, mit ihr reden. Solange die Mauer stand, würde ich das nicht tun können.
»Ja, klar«, antwortete ich, spürte aber sogleich seine Feindseligkeit.
»Was ist?«, fragte ich. Ein schrecklicher Gedanke durchzog mein Hirn. War Milena etwas passiert?
»Nun rück schon raus mit der Sprache!«, fuhr ich Lorenz an und hielt mich nur sehr schwer zurück, ihn am Kragen zu packen und zu schütteln. In diesem Augenblick wusste ich wieder, was Angst war, und so eine Angst wie um Milena hatte ich noch nie gespürt.
»Es gibt da eine Sache, die ich mit dir klären muss«, antwortete er.
Also, passiert war ihr schon mal nichts. Dafür schien Lorenz was gegen mich zu haben – und das, obwohl wir erst einmal miteinander gesprochen hatten. Glückwunsch, Claudius, du weißt echt, wie man sich Freunde macht!
»Wenn du ihr das Herz brichst, kannst du was erleben«, brummte er.
Ich zog verwundert die Augenbrauen hoch. Der Punk war einen Kopf kleiner als ich und auch schmächtiger und drohte mir Prügel an?
Normalerweise hätte ich dem was erzählen müssen, aber wegen Milena zwang ich mich dazu, ruhig zu bleiben.
»Ich habe nicht vor, irgendwas zu tun, das sie verletzt«, entgegnete ich. »Aber ich frage mich, was dich das angeht.«
»Ich kenne Milena schon viel länger als du«, gab Lorenz zurück. »Sie ist für mich so was wie ’ne Schwester, also pass auf!«
»Ich sag’s dir noch mal, ich werd Milena weder was tun noch ihr Herz brechen. Außerdem, wie kommst du da drauf?«
»Weil sie verknallt in dich ist!«, entgegnete Lorenz. »Oder bist du blind?« Ungelenk fuchtelte er mit den Händen vor seinem Gesicht herum.
Das freute mich insgeheim, aber es beunruhigte mich auch, dass Lorenz sich dafür interessierte. Würde er versuchen, sie mir abspenstig zu machen? Das mit der Schwester nahm ich ihm nicht ab.
Für eine Weile standen wir uns gegenüber wie in der West Side Story. Hätte nur noch gefehlt, dass Lorenz begonnen hätte, mit den Fingern zu schnippen und einen Tanz hinzulegen. Ich spürte, wie aufgewühlt er war. Vielleicht bedauerte er es, dass ich ihm keinen Grund gegeben hatte, mir eine
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