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Und morgen am Meer

Und morgen am Meer

Titel: Und morgen am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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reinzuhauen.
    »Willst du sehen, wie man von hier in den Westen kommt? Falls du mal flüchten musst.«
    Wie kam er denn jetzt darauf? Und warum sollte ich von hier flüchten müssen?
    Ein schiefes Grinsen legte sich auf sein Gesicht, das mich nichts Gutes ahnen ließ. Schlimmstenfalls lauerten hinter irgendeiner Ecke seine Freunde und warteten darauf, mir eine Tracht Prügel zu verpassen.
    »Haste Angst, oder was?« Seine Augen wurden schmal. Ich sah ein, dass er, wenn ich mich jetzt drückte, Milena erzählen würde, ich sei ein Feigling.
    »Na los!«, sagte ich, worauf er zufrieden nickte und mir dann bedeutete, die U-Bahn-Treppe hinaufzukommen.
    Die graue Straße, in die er mich führte, stank nach Abgasen und Kohlenrauch. Von einer undefinierbaren schwarzen Schicht überzogene Häuser ragten bedrohlich an den Straßenrändern auf.
    Innerlich hatte ich mich schon dagegen gewappnet, Lorenz’ Freunde kennenzulernen, doch in dieser Straße stand und ging kaum jemand. Und obwohl es hier einige dunkle Durchgänge gab, aus denen einem der Muff verrottender Bauten entgegenwehte, lauerte hier niemand. Nicht einmal Obdachlose waren zu sehen.
    Hätte sich diese Straße in Westberlin befunden, wären die Häuser schon längst von Autonomen besetzt worden.
    Lorenz erklärte mir, dass sich ganz in der Nähe der ehemalige U-Bahnhof Rosenthaler Platz befand, und führte mich dann ein Stück weiter zu einem Haus, vor dem einige metallene Platten und Gitter auf dem Boden angebracht waren. Nachdem er sich kurz umgesehen hatte, schraubte er an einer von ihnen mit seinem Taschenmesser herum und hielt wenig später vier lange verrostete Schrauben in der Hand.
    »Wenn wir ein bisschen warten, sehen wir den Zug.«
    »Ich weiß, wie der aussieht«, entgegnete ich, vielleicht ein bisschen großspurig, denn Lorenz schien extrem stolz auf seine Entdeckung zu sein. »Ich bin hier schon mehrfach durchgefahren.«
    »Und was ist das für ein Gefühl?«, fragte Lorenz spöttisch. »Habt ihr Westdeutschen Schiss, auf dem Boden der DDR zu sein?«
    »Nein, warum sollten wir? Eure Grenzer sorgen schon dafür, dass wir nicht nach oben kommen.« Irgendwie hatte ich gerade Lust, ihn für sein Gequatsche zu schütteln. Aber ich ließ es sein, denn er hatte mich ja auch nicht in einen Hinterhalt geführt. »Aber weißt du, wie es ist, an einem vollkommen verwahrlosten, schlecht beleuchteten Bahnhof vorbeizukommen und dir dann vorzustellen, wie es früher gewesen sein muss, als es da unten noch Geschäfte gab und Leute, die ein- und ausstiegen. Leute, die sich frei durch die Stadt bewegen konnten und nicht verstummten, wenn sie an einem dieser verfallenen Orte entlanggefahren sind. Kannst du dir vorstellen, an einen Ort zu kommen, der eigentlich für das Leben gedacht ist, aber jetzt einfach nur tot ist, tot und gruselig?«
    Lorenz sah mich an, presste dann die Lippen zusammen. Offenbar wusste er genau, wovon ich sprach.
    »Das weiß ich, Mann«, sagte er kleinlaut. »Aber kannst du dir vorstellen, in einem Land zu leben, in dem die Menschen wie Tiere eingesperrt werden? In dem versucht wird, ihr eigenes Denken auszulöschen und durch gequirlte Parteischeiße, an die die Bonzen selbst nicht mehr glauben, zu ersetzen?«
    »Nein, das kann ich nicht«, antwortete ich ehrlich. »Aber durch Milena und auch durch dich habe ich allmählich ein Bild davon, und du kannst mir glauben, das macht mich stinkwütend.«
    Lorenz sah mich an, als wollte er prüfen, ob ich auch die Wahrheit sagte, dann nickte er.
    »Ich glaube, ich lasse die Platte jetzt auf, für alle Fälle.« Jetzt kehrte seine Frechheit wieder zu ihm zurück. »Vielleicht musst du ja irgendwann mal türmen.«
    Ich glaubte kaum, dass ich es nötig haben würde, mich flüchtend durch diesen schmalen Schacht zu quetschen, aber ich nickte nur. Lorenz würde ja doch tun, was er wollte.
    Nur einen Augenblick später ertönte ein Donnern, das ich nur zu gut kannte. Die U8.
    Lorenz schloss andächtig die Augen, als erwartete er eine Erscheinung. Auch ich lauschte und bemerkte dabei, dass der Zug genau an der Stelle, wo wir standen, langsamer fuhr. Ein heißer Luftzug schoss aus dem Loch, erfasste mein Haar und zerrte an Lorenz’ fransiger Jeansjacke.
    Dann war es vorüber.
    »Glaub mir, Mann, eines Tages werde ich hier durch in den Westen flüchten«, sagte Lorenz andächtig, als er die Augen wieder öffnete. »Auf jeden Fall dann, wenn bis zum Ende des Jahres bei uns nicht auch Grenzzäune durchgeschnitten

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