Und morgen am Meer
Brücke stehen und beobachten konnten, wie sich die Nacht verzog und der neue Tag am östlichen Horizont heraufdämmerte. Aber so was konnte man sich nicht erlauben, wenn man floh. Jedenfalls dann nicht, wenn man sich noch in der Stadt befand, aus der man fliehen wollte.
Schließlich ging es weiter über mehr oder weniger gut beleuchtete Nebenstraßen, bis schließlich ein Hinweisschild auftauchte, das die Autobahn, den »Berliner Ring«, anzeigte.
Kaum waren wir dort, beschleunigte Claudius. Zögerlich noch, doch ich spürte, dass er sicherer wurde. Während ich mich fest an ihn presste, kribbelte es in meinem Magen, aber diesmal vor Aufregung und nicht vor Angst. Wir taten es wirklich, wir fuhren ans Meer! Daran, dass es schwierig werden könnte, die Grenzen zu überqueren, wollte ich erst mal nicht denken. Wir waren frei. Selbst wenn die Stasi jetzt aus tausenden Fenstern der Stadt spähte, würde sie nicht wissen, was wir vorhatten – oder wer wir waren.
Heart
26. Juli 1989
Claudius
Und morgen am Meer … Dieser Gedanke beflügelte mich, und gleichzeitig jagte er mir große Angst ein. Würden wir es schaffen? Nein, eigentlich stellte sich diese Frage nicht, denn wir mussten. Komme, was wolle.
Im Moment war mein größeres Problem die Jawa. Das Motorrad fuhr sich gut, trotzdem waren meine Hände feucht vor Angst und über meinen Rücken rann ein kaltes Schweißrinnsal. Ich spürte deutlich, dass ich aus der Übung war – und zu allem Überfluss tauchte immer wieder das erschrockene Kindergesicht vor meinem geistigen Auge auf.
Ich versuchte, es so gut wie möglich zu verdrängen, ebenso den Sturz, der mich noch immer ein wenig verunsicherte, während ich gegen das Gefühl ankämpfte, dass mir der Helm das Gesicht zerquetschte.
Doch es gab einen Grund, weshalb ich es aushielt. Während wir über die Landstraße fuhren, vorbei an Feldern, die von roter Morgensonne beschienen wurden, schmiegte sich Milena fest an meinen Rücken. Laut der alten DDR -Straßenkarte, die Milena eingepackt hatte, näherten wir uns jetzt dem tiefsten südlichen Brandenburg. Wir hätten auf der Transitstrecke in Richtung Tschechoslowakei fahren können, aber das erschien mir zu gefährlich. Hin und wieder tauchte Polizei auf diesen Strecken auf. Die brauchten mich nur anzuhalten und schon steckten wir in der Klemme. Also würden wir das tun, was Milena vorgeschlagen hatte: Haken schlagen wie ein Kaninchen. Oder besser gesagt: über kleine Landstraßen fahren.
Im Grenzort Reitzenhain wollten wir dann versuchen, in die ČSSR zu kommen. Das hörte sich erst einmal ganz leicht an, doch noch waren wir inmitten brandenburgischer Felder unterwegs. Und ich kam schließlich an einen Punkt, an dem ich nicht mehr weiterwusste. Ich lenkte die Jawa in einen Seitenweg und dann ein Stück weit über eine Traktorspur in ein Feld. Sollte uns hier jemand suchen, würde er uns im hochstehenden Korn nicht so leicht entdecken.
»Was ist?«, vernahm ich dumpf Milenas Stimme hinter mir. Ich stellte den Motor ab und schälte mich aus dem Helm. Stille. Wohltuende Stille. Der Wind strich durch die Bäume und ließ das Laub rascheln. Das Korn wiegte sich vor uns wie ein sanftes gelbes Meer.
»Ich will wissen, wo wir sind«, sagte ich, zog mir die Handschuhe von den Fingern und öffnete den Rucksack. Die Karte steckte gleich vorn, für den Fall der Fälle.
Milena zog sich jetzt ebenfalls den Helm vom Kopf und schüttelte ihr Haar aus. Die Sonne verlieh ihm einen goldenen Schimmer, um den sie jedes Haarpflegemodel bei uns beneidet hätte.
Kurz versank ich in diesen Anblick, dann zwang ich mich, auf die Karte zu schauen.
»Wir müssten hier rausgefahren sein«, sagte ich schließlich, als ich die entsprechende Straße gefunden hatte. Dann fuhr ich mit dem Finger über die dünne Linie, die die Landstraße markierte. »Wenn wir weiter in diese Richtung fahren, kommen wir in ein paar Dörfer. Allerdings müssten wir uns dann überlegen, woher wir Sprit bekommen.«
»Bei uns gibt es auch auf Dörfern manchmal kleine Tankstellen«, entgegnete Milena, während sie weiterhin die Karte betrachtete. Ich bemerkte, dass ihr Blick an der roten Linie im Süden klebte, der Grenze zur ČSSR . »Als wir mal nach Thüringen gefahren sind, haben wir jedenfalls in einem Dorf angehalten. Die Tankstelle bestand nur aus einer Zapfsäule, aber zufällig hatte sie genau das Gemisch, das wir für unseren Trabi brauchten.«
Ein etwas wehmütiger Ausdruck trat in ihre Augen,
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