Und morgen am Meer
doch sie vertrieb ihn mit einem kurzen, aber entschlossenen Kopfschütteln. »Wir sollten weiterfahren«, sagte sie dann und richtete noch einmal den Helm. »Noch sind wir nicht weit genug von Berlin entfernt. Papa weiß es bestimmt schon und läuft Amok.«
Und nicht nur ihr Vater würde verrücktspielen. Meiner würde zunächst glauben, dass ich vielleicht bei Max war, doch spätestens am Abend würden sie merken, dass ich nicht zurückkehrte. Mama hatte das nicht verdient, okay, aber mein Vater schon. Natürlich wollte ich sie nicht auf ewig in Angst und Schrecken versetzen. Sobald wir es nach Österreich geschafft hatten, würde ich mich irgendwie mit ihnen in Verbindung setzen. Doch jetzt wollte ich erst einmal Freiheit genießen!
In einem kleinen Dorf bedeutete mir Milena bei einem kleinen Haus anzuhalten, dessen Türen sperrangelweit offen standen. Die grüne Farbe blätterte von den Wänden und das einzige Fenster war vergittert. Was wollte sie hier?
Als ich sie das fragte, antwortete sie: »Das ist ein Dorfkonsum. Wir brauchen doch Proviant, oder?« Lachend nahm sie den Helm ab, machte ihn am Motorrad fest. »Du fragst dich jetzt sicher, wo hier die Waren sind.«
»Ich frage mich, woran du erkannt hast, dass das hier ein Konsum ist?« Mittlerweile wusste ich ja, dass es sich bei einem Konsum um so etwas wie einen Tante-Emma-Laden handelte. Aber selbst die kleinsten Läden in Westberlin hatten Waren im Schaufenster – und keine Gitter davor.
Als ich den Laden betrat, kam es mir vor, als würde ich die Speisekammer eines alten Bauernhauses betreten. An den Wänden standen alte, bunt zusammengewürfelte Regale, in denen sich unterschiedliche Waren befanden. Tüten mit Zucker, Päckchen mit Salz und Mehl erkannte ich noch, aber dann sah ich eine rot-gelbe Schachtel mit der Aufschrift »Tempo-Bohnen«. Daneben standen »Tempo-Erbsen« und etwas weiter eine braune Röhre mit der Aufschrift »Im Nu«. Der »Rondo-Kaffee« war wieder erkennbar. Von den »Othello«-Keksen, die sinnigerweise schwarz waren, nahm Milena gleich ein paar mehr mit, außerdem Burger-Knäckebrot und andere Sachen, an deren schmuckloser Verpackung man nicht erkennen konnte, was es war.
Bei den Getränken standen klobige Kästen, in denen wesentlich mehr Flaschen Platz fanden als in unseren Getränkekästen. Die Flaschen waren dafür klein und bauchig. Dosen und Plastikflaschen gab es hier nicht. Und auch frisches Obst und Gemüse suchte ich vergeblich. In einem Korb schrumpelten ein paar Äpfel vor sich hin.
Ein eigenes Regal hatte der Alkohol. Lauter Schnapsflaschen mit den Aufschriften »Goldbrand« oder »Kristall-Wodka«.
Das Angebot im Kühlregal – wenn man das so nennen konnte – bestand hauptsächlich aus Butter, weißer Milch in großen Flaschen und einigen wenigen Flaschen rosafarbener Milch, von denen Milena mir vier in die Hand drückte.
Woran kein Mangel zu bestehen schien, waren Eier. In großen grauen Kartonstiegen stapelten sie sich neben der Kasse.
»Die Dorfleute bessern damit ihre Kasse auf, indem sie die Eier, die ihre Hühner legen, verkaufen«, erklärte mir Milena, als wir unseren Einkauf zu der etwas mürrisch aussehenden Verkäuferin trugen, die in einer Zeitschrift las und der es egal zu sein schien, ob wir etwas klauten.
Eier kaufte Milena nicht, dafür aber blaurote »Schlager-Süßtafeln«, haufenweise Tütensuppen in schmucklosen Folientüten, ein Stück Dauerwurst und kleine Plastikbecher, auf deren Silberfolie ein Mädchenkopf mit Zöpfen abgebildet war. Darunter stand was von Vanille-Quark-Dessert.
»Die Leckermäulchen essen wir gleich!«, verkündete Milena, als wir den Proviant nach draußen trugen.
»Und was ist damit?« Ich reichte ihr die rosafarbenen Milchflaschen, die nur mit einem Foliendeckel verschlossen waren. Das würde eine schöne Schweinerei geben, wenn die in einem der Rucksäcke ausliefen.
»Ich fürchte, die müssen wir auch gleich trinken«, sagte Milena verschmitzt. »Aber keine Bange, die Fruchtmilch ist lecker. Wenn wir Glück haben, schmeckt sie nach Kirsche oder Erdbeere. Manchmal auch nach Mischfrucht. Das ändert sich jede Woche.«
Ich drehte die Flasche in der Hand. »Also ich tippe auf Erdbeere«, sagte ich, denn die blassrosa Farbe erinnerte mich an unsere Fruchtmilch, die es in Plastikbechern zu kaufen gab.
»Das sehen wir erst, wenn wir sie aufmachen. In der Schule ist das immer richtiges Rätselraten.«
»In der Schule? Nehmt ihr die etwa in euren Taschen
Weitere Kostenlose Bücher