Und plotzlich ist es Gluck
diesem Umstand keine besondere Beachtung geschenkt, doch jetzt finde ich ihn plötzlich unsäglich traurig. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, wie ich mich wohl damals gefühlt haben mag, plötzlich allein im dunklen Uterus meiner Mutter. An jedem anderen Tag würde ich den Gedanken verdrängen, aber heute ist nicht irgendein Tag, und deshalb denke ich an das Baby in meinem Bauch, das nun ebenfalls allein ist. Ein befremdliches Gefühl macht sich in mir breit – als hätte ich etwas verloren und zugleich etwas gewonnen.
Dr. Goodman redet weiter, und ich versuche, mich auf seine Worte zu konzentrieren. »… erblich bedingt ist, dann wäre so etwas nicht weiter ungewöhnlich.«
»Gibt es sonst irgendwelche Gründe für das, was geschehen ist?«, frage ich.
»Das wissen wir nicht«, sagt er und fügt dann, als hätte er meine Gedanken gelesen, hinzu: »Sie haben sich jedenfalls nichts vorzuwerfen. So etwas kommt eben hin und wieder vor.«
Ich nicke.
»Was ist mit dem Baby?«, fragt Bryan leise. »Mit dem anderen, meine ich.«
Dr. Goodman holt Luft und lächelt sein breites, rundes Lächeln, erleichtert darüber, dass er außer mir noch einen weiteren Ansprechpartner hat. Er konsultiert seine Notizen, blättert geschäftig in seinen Unterlagen.
»Diesbezüglich sieht es gut aus«, sagt er. »Kein Grund für Pessimismus. Dieses Baby ist eine Kämpfernatur, würde ich sagen.«
»Eine Kämpfernatur?«
»Nun ja, es kommt nur selten vor, dass bei einer Fehlgeburt nur ein Embryo abgeht. Meistens verliert die Mutter beide. Wenn ein Baby überlebt, betrachte ich es als Kämpfernatur. « Dr. Goodman errötet, als er das sagt. Vielleicht hat er das Gefühl, zu viel von sich preisgegeben zu haben.
In diesem Augenblick passiert es. Ich spüre, wie sich etwas in mir verändert. Es fühlt sich an wie rieselnder Sand unter den nackten Fußsohlen. Ich lege mir die Hände auf den Bauch.
»Alles in Ordnung, Scarlett?«, fragt Dr. Goodman sogleich.
»Kann das Baby … Kann sie spüren, was … was geschehen ist?« Ich komme mir albern vor, aber Dr. Goodman
antwortet mir, als hätte ich eine absolut berechtigte Frage gestellt.
»Nein, keine Sorge, das ist völlig ausgeschlossen.« Er notiert etwas auf einem Zettel. »Übrigens ist es noch zu früh, um das Geschlecht zu bestimmen.«
»Es ist ein Mädchen«, sage ich.
»Weibliche Intuition, wie?« Der Arzt lächelt ein wenig und mustert Bryan mit einem vielsagenden Blick.
»Ich werde sie Ellen nennen«, füge ich hinzu. Diesmal sehe ich dem Arzt direkt ins Gesicht.
»Ellen?«, fragt Bryan.
»Nach der Bovril-Frau, die am Flughafen so nett zu mir war«, erkläre ich.
»Hieß sie Ellen?«
»Nein. Keine Ahnung, wie sie hieß.«
»Warum willst du das Baby dann Ellen nennen? Vorausgesetzt, es wird ein Mädchen?«
»Weil sie mit einer Frau telefoniert hat, die Ellen hieß. Und es ist ein Mädchen, das weiß ich ganz sicher, auch wenn ich sonst im Moment nicht viel weiß.«
Dr. Goodman gluckst in sich hinein. »Nun, ich schätze, die Wahrscheinlichkeit, dass Sie Recht behalten, steht 50 zu 50.«
Sein Pager gibt ein Piepsen von sich, was er jedoch ignoriert. Er schreibt seelenruhig weiter, in seiner großen, kindlichen Handschrift. Jedes h und y ist mit dicken Schleifen versehen. Vielleicht hat er es ja nicht gehört. Ich halte mich dreizehn Sekunden lang zurück, dann bemerke ich: »Ihr Pager hat eben gepiepst. «
»Ja, ich weiß. Das macht er ständig«, erwidert Dr. Goodman, ohne den Kopf zu heben.
»Wollen Sie nicht nachsehen, was los ist?« Ich spüre, wie sich Schweißperlen auf meiner Stirn bilden.
»Gleich«, sagt Dr. Goodman und schreibt weiter, die Zungenspitze zwischen die Zähne geklemmt.
Die Sache lässt mir keine Ruhe. »Es könnte wichtig sein.«
»Vielleicht sollten Sie wirklich mal einen Blick drauf werfen«, drängt nun auch Bryan.
Endlich erbarmt sich der Arzt und nimmt seinen Pager zur Hand. »Oh! Ein Herzstillstand in der Ambulanz.« Dann befestigt er das Gerät wieder an seinem Gürtel und lächelt sein sagenhaftes Lächeln.
»Also … Sie sollten sich dann wohl auf den Weg machen«, sage ich und schwinge die Beine von der Bahre.
»Das sollte ich wohl.« Dr. Goodman steckt den Stöpsel auf seinen Stift und den Stift in die Tasche.
Ich bin kurz davor, ihn in einen Rollstuhl zu setzen und ihn höchstpersönlich in die Ambulanz zu schieben.
»Aber erst möchte ich Ihnen noch sagen …«
Ich schneide ihm das Wort ab. »Ich werde in
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