Und plotzlich ist es Gluck
diesem Augenblick, während ich lese. Ich frage mich, wie sich das wohl anfühlt, wenn einem plötzlich Arme wachsen. Bald wird ihr auch der Daumen wachsen, und dann kann sie ihn in den Mund stecken. Ein schöner Gedanke, dass sie daumenlutschend in meiner Gebärmutter schwimmt. Er gibt mir das Gefühl, dass sie dort sicher ist, tief in mir drin.
Als ich erwache, ist es dunkel in der Küche, und jemand hat eine Fleecedecke über mich gebreitet. Ich sehe auf die Uhr. Es ist ein Uhr früh. Ich nehme Blue, der sich am Fußende der Couch zusammengerollt hat, auf den Arm. Er tut, als würde er schlafen und lässt mich gewähren.
Ich schlendere durch das dunkle Haus. Es ist mir so vertraut, selbst in der Dunkelheit. Vor allem in der Dunkelheit. Blue, der an meine nächtlichen Wanderungen gewöhnt ist, drückt die Nase in meine Armbeuge und gibt ein authentisch klingendes Schnarchen von sich. Maureen und Declan liegen im Bett, schlafen aber noch nicht. Declan liest das Drehbuch. Vielleicht lernt er auch seinen Text. Maureen sieht sich eine Folge von Dallas oder Dynasty an. Ich kann diese Serien, wie gesagt, nicht auseinanderhalten.
»Danke fürs Zudecken«, sage ich. »Es ist eiskalt heute Nacht.«
Maureen sieht mich verwirrt an. »Ich dachte, du wärst längst im Bett.«
»Ich auch.« Declan hebt flüchtig den Blick, konzentriert sich aber sogleich wieder auf das Drehbuch.
»Nein … ich bin auf dem Sofa in der Küche eingenickt. Dann muss es Phyllis gewesen sein.« Ich lasse mich auf der Lehne eines Sessels nieder.
»Die hat sich seit dem Abendessen nicht mehr blicken
lassen.« Maureen dreht den Ton lauter. »Sie sagte, sie sei erschöpft nach ihrem Aufenthalt in Lourdes. Kein Wunder, wenn man jeden Abend trinkt und singt und bis in die Puppen tanzt.«
»Seit wann sind Red und Al Pacino weg?«, frage ich, den Blick starr auf den Fernseher gerichtet.
»Seit etwa einer halben Stunde. Wir mussten ihn ein ganzes Stück weit anschieben, bis der Motor seines Wagens endlich angesprungen ist.«
»Wohnt er weit weg von uns?« Meine Neugier überrascht mich.
»In Renelagh, glaube ich«, sagt Maureen. »Oh, ich liebe diese Szene. Gleich kippt Sue-Ellen JR einen Whisky Sour über den neuen Anzug. Ein Klassiker. «
Declan lässt das Drehbuch sinken und sieht mich an. »Es ist irgendwie tragisch«, stellt er mit einem tiefen Seufzer fest.
Maureen zuckt die Achseln. »Ist doch bloß ein Whisky Sour. Ein Erdbeer Daiquiri wäre schlimmer, Erdbeerflecken kriegt man nie mehr raus. «
»Ich rede nicht von Dallas, sondern von Red«, sagt Declan.
Ich warte darauf, dass Maureen nachhakt.
»Das einzig Tragische an Red Butler ist, dass er verlobt ist«, bemerkt sie, obwohl ihr Mann, mit dem sie seit vierzig Jahren verheiratet ist, direkt neben ihr sitzt.
»Er hat eigentlich gar keine Familie«, fährt Declan unbeirrt fort, während sich Maureen mit einer Seite des Drehbuchs Luft zufächelt. »Sein Vater hat seine Mutter verlassen, als sie mit Red schwanger war, und ein paar Jahre später ist sie gestorben.«
»An einem gebrochenen Herzen«, fügt Maureen hinzu und bekommt prompt wieder feuchte Augen.
»Äh ja, zweifellos«, sagt Declan. »Und obendrein hatte sie Brustkrebs.«
»Wer hat den Jungen denn großgezogen?«, erkundigt sich Maureen.
»Weiß ich nicht genau.« Declan nimmt ihr die Drehbuchseite aus der Hand. »So. Ich habe noch einiges zu tun«, sagt er, und an seinem Tonfall erkenne ich, dass er begeistert ist von dieser unverhofften Wendung. So habe ich ihn seit Jahren nicht gesehen. Er wirkt jünger und … irgendwie fitter. »Ab ins Bett mit dir, Scarlett«, befiehlt er mir. »Du und Ellen, ihr braucht euren Schlaf.«
Maureen schaltet den Fernseher aus, lässt sich nach hinten sinken und legt sich zwei dünne Gurkenscheiben auf die Augen. »Gute Nacht, Scarlett O’Hara«, sagt sie wie früher, als ich noch klein war. Sie hat diesen Spruch fast genauso innig geliebt, wie ich ihn gehasst habe. Bei dem Gedanken daran muss ich lächeln. Was für ein alberner Grund, sich aufzuregen. Und wie lange das alles her ist.
Ich gehe hinaus, aber nicht ins Bett. Das wäre sinnlos, nachdem ich auf der Couch geschlafen habe. Stattdessen wandere ich wieder mit Blue auf dem Arm durch das Haus. Ich mache mir eine Tasse Kakao, schmökere in meinem Babybuch, topfe die Aloe-Vera-Pflanze um, die in der Küche vor sich hin siecht, lese meine E-Mails und schreibe eine To-do-Liste für den kommenden Tag. Als mir nichts mehr einfällt,
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