Und was, wenn ich mitkomme?
stoße. Verständnis scheint mir sowieso eine ziemlich verbindende und motivierende Kraft zu sein, viel mehr als kluge Argumente. Was für ein erstaunliches Phänomen!
Pit und ich nehmen unser Abendessen auf einer Bank in der Nähe der albergue ein. Die Reste spendieren wir unseren Mitbewohnern Monika und Pierre, einem Kanadier, der schon eine gute Strecke mit Monika zusammen gelaufen ist und seine Wanderkameradin heute wiedergetroffen hat. Später gesellen sich noch die drei A-Mädels zu uns. Sie sind schließlich doch von einem freundlichen Autofahrer, der lieber für drei winkende Frauen als für ein nasses Pärchen angehalten hat, mitgenommen worden.
Jetzt ist es Viertel vor zehn. Ich sitze in meinem Bett und schaue aus dem Fenster mit Blick auf unsere Abenteuer-Brücke. Langsam senkt sich die Dämmerung über die Bucht und färbt das Wasser anthrazitgrau. Die beleuchtete Brücke wirft Lichtpunkte wie Silbermünzen auf die Wellen. Darüber zieht sich ein perlmuttfarbener Streifen Himmel, an dem sich ein vielversprechender zartrosa Schimmer zeigt. Eigentlich hat es in den letzten beiden Wochen nur an zwei Tagen ununterbrochen geregnet, sonst gab es bloß Schauer oder Nieselregen. Aber es war immer regnerisch genug, um ständig in Alarmbereitschaft zu sein, niemals ein trockenes Plätzchen für ein Picknick zu finden und unentwegt feuchte Schuhe zu haben. Das zermürbt uns allmählich, und wir haben Sehnsucht nach Wärme und Licht. Ob das Wetter morgen endlich besser wird?
32. TAG RIBADEO — GONDAN
Heute geht es in die Berge. Der Weg ist längst nicht so anstrengend, wie ich befürchtet habe. Bis auf die Eukalyptuswälder kann man sich hier wieder ganz wie im Allgäu fühlen. Es ist wunderschön, trotzdem finde ich es schade, nicht mehr am Meer zu sein. Die Berge sind toll, aber eben sehr weit weg. Spüren kann ich sie nur über Anstrengung. Sich selbst fühlen, das bedeutet für mich »lebendig sein«. Aber ich will mich nicht nur über Schweiß und Schmerz erleben. Das Meer dagegen empfinde ich wie Streicheleinheiten, den Sand, den Wind und das Wasser. Wochenlang bin ich daran entlanggewandert, ohne die Möglichkeit genutzt zu haben, mich durch die Wellen selbst zu fühlen. Das ist, wie eine Konservendose direkt vor die Nase eines völlig Ausgehungerten zu halten, während es weit und breit keinen Dosenöffner gibt... total deprimierend. Vielleicht rührt daher mein Eindruck, etwas versäumt, den Hunger nach Lebendigkeit nicht gestillt zu haben. Ich merke, dass ich noch sehr hungrig bin und die Sehnsucht nach Leben sich noch längst nicht erfüllt hat. In den letzten Wochen habe ich mich selbst sehr intensiv gespürt, aber eben meistens über den Schmerz. Obendrein habe ich heute schon wieder meine Tage bekommen. Kein Wunder, dass ich nicht besonders gut drauf bin.
Der Wald ist dicht, die Wege sind verschlungen, aber die Ausschilderung ist top. Trotzdem verlaufen wir uns und sind, bis wir es merken, bereits drei Kilometer in die falsche Richtung gewandert. Umkehren geht mal wieder gegen unsere Wanderehre. Stattdessen zücken wir den Kompass und orten mit seiner Hilfe den richtigen Kurs, der uns geradewegs links in eine schmale Straße führt. Wer weiß, wo wir hier gelandet sind, und wer kann schon sagen, wo wir herauskommen, wenn wir diesem Weg folgen? »Hauptsache, die Richtung stimmt«, sagt Pit zuversichtlich. Aber wirklich beruhigt sind wir beide nicht. »Wenn jetzt bloß jemand käme«, schickt er ein Stoßgebet zum Himmel. Und siehe da, der Himmel hört nicht nur, sondern antwortet sogar. Auf der Straße, auf der uns die ganzen zwei Kilometer nicht ein einziges
Auto begegnet ist, rumpelt ein verbeulter Kleinwagen heran. »Wenn der noch hier abbiegt...«, sinniert Pit. Auch dieser Wunsch wird erfüllt, und als Pit noch einen dritten anhängt — »bitte, bitte anhalten« — und sich zur Bekräftigung mit ausgebreiteten Armen auf die Straße stellt, quietschen tatsächlich Reifen und das Auto kommt zum Stehen.
Heraus krabbelt ein Männlein, das Pit höchstens bis zur Brust reicht und so alt und verschrumpelt aussieht wie Methusalem. Aber er spricht, wie wir es längst von den Spaniern gewöhnt sind: pausenlos und schnell wie eine Rakete. Dabei fuchtelt er wild mit den Armen in der Luft herum, wohl in der Hoffnung, dass wir ihn dann besser verstehen, was leider nicht der Fall ist. Aber wenigstens er hat etwas begriffen, nämlich, dass wir Jakobspilger sind, uns verlaufen haben und dringend Hilfe
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