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Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kemmler
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Gastfreundschaft. Abends bekochten sie uns, und das mit Mengen, die jeder Kantine zur Ehre gereicht hätten. Es ist jenseits der Vorstellungskraft, wie viel man essen kann, wenn man zehn Stunden an der nordischen Freiluft arbeitet. Ich glaube deshalb, dass ein Großteil der Raubzüge und Reisen der Wikinger auf die Suche nach Essen zurückzuführen ist. Daher wahrscheinlich auch die schlechte Laune der Nordmänner, wenn sie irgendwo eintrafen. Ich selbst bin am schwierigsten, wenn ich nach einem langen Tag Hunger habe.
    Aber selbst bevor das Essen gereicht wurde, war es vollkommen unmöglich, schlechter Dinge zu sein, denn Philemon und Baucis strahlten eine Ruhe aus, die ich noch nie zuvor erlebt hatte. Sie waren wie ein Bauernpärchen in einem russischen Märchen, liebevoll, höflich und von einer tiefen Melancholie umgeben, die perfekt zu ihrer Harmonie passte. Aus der jungfräulichen Sicht von damals wirkten sie ein wenig bieder, aus heutiger Sicht vermute ich, so ein wissendes Lächeln in den Augenwinkeln bekommt man nur, wenn man genau weiß, wie man die Hütte zum Wackeln bringt.
    Da beide so gut wie kein Deutsch sprachen und niemand von uns des Dänischen mächtig war, fand auch keine Unterhaltung in dem Sinne statt, außer Zulächeln und Nicken. Bis auf den einen Abend, als uns die beiden ins Wohnzimmer holten, was noch nie vorgekommen war. Wir saßen eigentlich immer nur am Esstisch, redeten manchmal noch ein wenig und gingen dann in unsere Zimmer. Gespannt folgten wir den beiden, und dann saßen wir da, zwei Ingenieure, mein Kumpel, Philemon, Baucis und ich, und verfolgten im dänischen Fernsehen den Fall der Berliner Mauer. Angeblich wirken die Dinge ja kleiner, wenn man weiter entfernt ist, in diesem Fall war es umgekehrt. Und für einen Kläranlagenmonteuer war es ein absolut folgerichtiges Ereignis. Den Menschen dauerhaft in seinem Freiheitsdrang zu beschneiden, und ich rede hier nicht nur von Reisefreiheit, kommt wohl dem Versuch gleich, durch ständiges Klären aus Wasser etwas anderes als Wasser zu machen. Man kann Wasser zwar verschmutzen ohne Ende, aber mehr auch nicht.
    Wir haben an dem Abend zusammen viel Bauernschnaps getrunken und uns bis spät in die Nacht unterhalten, über viele grundsätzliche Dinge. Seltsamerweise gibt es für diese Art Gespräche keine Sprachbarrieren.
    Von diesem Ereignis angestachelt, regte sich auch in mir der Freiheitsdrang, denn Freiheit ist ja immer auch die Freiheit der geschlechtlichen Annäherung. Und im Gegensatz zum Erspüren der historischen Dimension des Mauerfalls spielte, was mich und Frauen betraf, die Entfernung durchaus eine Rolle. Es drängte mich also wieder zurück in die Zivilisation.
    Sogar ein freier Tag am Meer brachte keine Erleichterung, im Gegenteil. Ohne dem Tourismusbüro Dänemarks zu nahe treten zu wollen, konnte ich angesichts des oktoberlichen skandinavischen Strandes verstehen, warum die Wikinger sogar verreisten, wenn sie vorher gegessen hatten.
    Diese Gedanken trübten meine Konzentration ein wenig, was zu dem einzigen gröberen Fehler führte, den ich bei meiner Arbeit machte. An einem der Schaltkästen, die die Anlage steuerten, war ein Schild verlorengegangen, ein paar Zentimeter groß, etwa wie ein Klingelschild. Also habe ich es nachbestellt. Nach einigen Tagen traf eine Sendung ein, die vom Bahnhof abgeholt werden musste. Ich fand ein zimmertürgroßes, in Holz verpacktes Teil vor, das bequem den gesamten Schaltkasten überragte und auf dem man noch aus einem Kilometer Entfernung lesen konnte:
    »Verdichter 1«.
    Ich hatte bei der Bestellung die Maßstäbe verwechselt. Zu große Schilder sind also eher wie Unfreiheit. Je näher man vor ihnen steht, desto mehr fällt einem ihre Größe auf.
     

17
     
    kurier
     
    Rechtzeitig zu Semesterbeginn kehrte ich zurück und beschloss, nun meine Ausbildung auch akademisch voranzutreiben. Ich schrieb mich für Englische Literaturwissenschaften an der Universität ein. Danach studierte ich das Vorlesungsverzeichnis, während ich weitere drei Monate als Lagerist arbeitete, schließlich gab es immer noch Schulden zu begleichen. Doch dann spürte ich, wie es mich aus dem Kellerlager wieder ans Licht zog, hinaus in die Weite. Ich wurde Kurierfahrer. Den Tipp hatte ich von meinem Bruder gekriegt, der immer schon ein Händchen dafür hatte, mir bei Geldsorgen aus der Patsche zu helfen. Ich war ja eigentlich der Ältere, aber Alter schützt vor so vielem nicht.
    Das Kurierfahren hatte zunächst

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