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Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kemmler
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beste Brotzeit, und bis wann muss man dort sein, bevor die Brotzeit nur noch Durchschnitt ist«. Als Kurierfahrer wird man also täglich dazu gezwungen, ein Problem zu lösen, woran sich Generationen von Mathematikern die Zähne ausgebissen haben, sofern sie welche hatten. Und auf der Straße ist es wie in den Berechnungen, manchmal ist die Lösung gut, manchmal nicht. Das Leben ist ein langer Fluss, in dem man an heißen Tagen auch noch baden gehen kann - sofern man eine gute Route gewählt hat.
    In meine Zeit als Kurierfahrer fiel auch ein weiteres Ereignis, das lange herbeigesehnt wurde und sich zwischenzeitlich zu einer anderen Art Travelling Salesman Problem ausgeweitet hatte. Nämlich: »Wenn man den ganzen Tag unterwegs ist und abends eine begrenzte Zeit an beliebig vielen möglichen Orten für eine sehr begrenzte Anzahl an begehrenswerten Frauen hat, wo soll man sich mit wem treffen, um auch mal Sex zu haben?« Ja, irgendwas am Postwesen im weitesten Sinne (Kurierfahren und Briefesortieren sind sich verwandt) schien meine Hormone anzuregen. Ich denke, das geht mir nicht allein so, Goethe beispielsweise war ja ebenfalls ein Schwerenöter vor dem Herrn, und wenn er auch selbst keine austrug, schrieb er doch Briefe ohne Unterlass. Vielleicht hatte ich aber auch nur Wenn der Postmann zweimal klingelt einmal zu oft gesehen. Dabei hätte ich eigentlich wissen sollen, manche Päckchen brauchen länger, aber irgendwann kommen sie alle an. So auch meines. Ich hatte mein erstes Mal, und es war sensationell, und - Herz, was willst du mehr - noch dazu skandalös.
    Nach Dänemark hatte ich beinahe eine kurze Liaison gehabt, die wieder mal am Timing scheiterte, weil ich mich verguckt hatte, sie nicht wollte, ich mich dann zunehmend entfernte, was zunehmend anziehend auf sie wirkte, so dass sie sich ihrerseits, als der Zug endgültig den Bahnhof verlassen hatte, in mich verguckte. Wir haben uns dann auf ihren Wunsch hin eine Weile nicht gesehen. Erst als die Wunden einigermaßen verheilt waren, lud sie mich zu ihrem Geburtstag aufs Land ein. Inmitten der Festgesellschaft war auch ihre beste Freundin, die ich nur dem Namen nach kannte. Wollen wir sie Europa nennen, weil sie den Stier in mir weckte. Wir haben den ganzen Abend geflirtet, allerdings körperlich völlig zurückhaltend, weil sie einen Freund hatte, dessen versammelter Freundeskreis ebenfalls anwesend war, und aus Rücksicht auf die Gefühle der Gastgeberin. Bei einem spätnächtlichen Würfelspiel dann waren wir am Rande unserer Contenance angelangt. Regelmäßig fielen uns, wie ungeschickt, die Würfel vom Tisch. Wir beugten uns hinunter, und während der Suche nach den kleinen gepunkteten Schelmen küssten wir uns feurig und heimlich.
    Das bekam aufgrund des allgemeinen Pegels noch niemand mit. Irgendwann dann waren alle außer uns im Bett und Polen weit offen. Wie zwei Ertrinkende auf der Suche nach einem Rettungsring fahndeten wir nach einer Liegegelegenheit oder einem Zimmer, in dem nicht bereits jemand lag. Schließlich entdeckten wir in höchster Not eine Matratze, die wir in den Gang warfen und auf der wir übereinander herfielen wie zwei Rudel ausgehungerter Wölfe. Die Natur ist schon eine großartige Sache. Ich hatte erst am nächsten Tag Zeit, nervös zu werden. Was mir auffiel, war die Tatsache, dass am Frühstückstisch alle irgendwie seltsam gedämpft wirkten. Vielleicht der Kater, überlegte ich. Wie sich auf der Heimfahrt mit einem Kumpel herausstellte, war es jedoch so, dass sich nicht nur das Zimmer der Gastgeberin direkt neben der Matratze und somit in bester Hörspiellage befand, auch die beste Freundin ihres Freundes verbrachte wohl geraume Zeit damit, auf die Toilette zu wollen, sah jedoch wegen des Geräuschpegels im Flur vom Verlassen des Zimmers ab. Letztlich haben wohl alle an unserem Ereignis teilgenommen. Leider bekam dann Europa den Großteil des Volkszorns ab, auch wenn ich als Zeuge für höhere Gewalt, Unzurechnungsfähigkeit und Handlung im Affekt gerne mehr auf mich genommen hätte. Ich war so gut gelaunt, dass ich das Gefühl hatte, alles aushalten zu können. Ich wäre damit umgegangen, wie ich es auch mit meinem Teil der Schelte getan habe, mit einem Ruhepuls von hundertachtzig und buddhistischer Gelassenheit. Ich fühlte mich durch und durch kuriert.
     

18
     
    student
     
    Die aufregende Geschichte mit Europa dauerte nur kurz. Nachdem wir uns in den folgenden Wochen viermal trafen, um uns zu versichern, es könne nichts

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