Und was wirst du, wenn ich gross bin
von einer siebzigjährigen Schottin betrieben, die nicht nur optisch die Schwester des Robert-Burns-Spezialisten hätte sein können. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie sich als eine der größten Koryphäen der Charles-Dickens-Rezeption entpuppt hätte. Bei Maisie’s war jeden Sonntag offene Bühne, auf der die Studenten ihre musischen oder komödiantischen Talente ausleben konnten. Das war ein sehr vergnüglicher Abend, sowohl was das Können einiger als auch das Unvermögen anderer betraf. Und da Castingshows damals unbekannt waren, gab es sonst nur wenige Gelegenheiten, Menschen bei der öffentlichen Zurschaustellung von Unvermögen beizuwohnen. Mangels der Beherrschung eines Instruments und wegen nachgewiesener stimmlicher Unzulänglichkeit fasste ich irgendwann den Beschluss, zumindest als Stand-Up-Comedian Talent zu beweisen. Zu diesem Zeitpunkt war der Beruf »Stand-Up-Comedian« in Deutschland völlig unbekannt, hierzulande kannte man zu dem Zeitpunkt neben dem politischen Kabarett nur Witzbolde, Ulknudeln und die gefürchteten Humoristen.
Dann begann, zeitgleich mit der RNA-Protein-Synthese, die American-Football-Saison. Das erste Spiel verloren wir mit fliegenden Fahnen. Außerdem stand nun die erste große Biologieklausur ins Haus. Als ich unmittelbar vor der Prüfung gramgebeugt, wie ich das in der Schule gelernt hatte, auf den Rastakumpel traf und ihm mit kaum hörbarer Stimme von der bevorstehenden Mühsal erzählte, grinste er mich nur fröhlich an und meinte:
»Well, that’s what you’re here for. Kick it!«
Ich fühlte mich erst mal gänzlich unverstanden, aber da er zehn Jahre älter war und einige Jahre auf das Studium gespart hatte, ließ ich dem Gedanken Zeit, zu sacken. »Deswegen hier zu sein« erschien mir übertrieben. Doch die Botschaft hat sich für immer eingenistet. Er hatte Recht. Über etwas zu klagen, was für ihn ein Privileg war und was ich mir zugegebenermaßen selbst ausgesucht hatte, war ein wenig jämmerlich. Die Klausur hat dann sogar Spaß gemacht, inklusive des Resultats.
Aber das Schicksal fährt einem gerne aus unerwarteter Richtung in unerwarteten Momenten in die Seite. Besser gesagt, es sprang mir in die Seite, und zwar beim zweiten Footballspiel der Saison, in Form eines Gegenspielers gleich nach Spielbeginn. Zwar war es unter Adrenalin möglich, bis zum Schlusspfiff ein richtig gutes Spiel hinzulegen, aber schon nach der Heimfahrt war an Gehen nicht mehr zu denken. Eine Meniskusabsplitterung im Knie ist nachhaltig.
So aus dem Verkehr gezogen, verbrachte ich plötzlich viel Zeit im eigenen, kleinen Wohnheimzimmer. Diese nutzte ich gezwungenermaßen dazu, meine Situation zu betrachten - ausnahmsweise einmal umfassender. Ich begann, nicht nur den Moment, sondern auch langfristige Perspektiven ins Auge zu fassen. In einem ausführlichen Gespräch mit einem iranischen Doktoranden der Biologie beschäftigte ich mich erstmals damit, was bei diesem Studium eigentlich inhaltlich alles auf mich zukommen würde. Wie sich herausstellte, schrieb dieser Doktorand seit zwei Jahren an seiner Dissertation im Fachbereich Zoologie. Diese beschäftigte sich mit den Hinterbeinen von afrikanischen Heuschrecken und nahm ihn so ein, dass sie ihm so gut wie keinen Raum für Freizeit ließ.
Das gab mir zu denken. Drei Jahre Heuschreckenfüße. War es das, was ich wirklich von Herzen wollte? Vier Jahre lang Zellinnereien auswendig lernen und dann weitere drei Jahre Heuschrecken? Die Sonne schien auf einmal ein bisschen blasser zu werden. Was vielleicht auch daran lag, dass die Sonne in Schottland im Winter sehr tief steht, erst um neun Uhr aufgeht, bevor es spätestens um vier wieder dunkel ist. Wollte ich denn wirklich mindestens vier Jahre in einem Land verbringen, in dem man um fünf Uhr nachmittags zu Abend isst? Obendrein warf mich das Fortbewegen auf Krücken in meinen erfolgversprechenden Anbahnungen bezüglich der weiblichen Studentenschaft deutlich zurück. Die Mitleidstour funktionierte hier nicht, wahrscheinlich ist bei Highlandern körperliches Gebrechen kein Argument für Krücken.
Meine Zweifel wurden jetzt grundsätzlicher Natur. War ich mit zweiundzwanzig nicht schon ein wenig zu alt für das Landschulheim? All die anderen Studenten wussten ja noch gar nicht, was sie mit ihrem Leben mal anfangen wollten, ich hingegen schon; ich hatte auch schon Erfahrungen gesammelt und wollte selbstbestimmt handeln.
Mir dämmerte: Meine Tage in Schottland waren gezählt. In den
Weitere Kostenlose Bücher