Und weg bist du (German Edition)
auszuweichen.«
Ich nickte und merkte, dass er das nicht nur so dahersagte. »Jack will uns offenbar dazu zwingen, dass wir uns erinnern.«
»Ja.«
Eine Weile aßen wir schweigend, bis ich schließlich sagte: »Ich habe das Gefühl, du willst mich etwas fragen, ich weiß bloß nicht, was.«
Noah lächelte und kurz sah ich wieder den Jungen aufblitzen, der mir so viel bedeutet hatte. »Wahrscheinlich ist es wie mit einem Splitter im Finger. Du weißt genau, dass du erst deine Ruhe hast, wenn er draußen ist.« Sein Blick wanderte zu dem Jachthafen in der Ferne, wo sanft die Masten auf den Wellen schaukelten. »Ich möchte wissen, wie es passiert ist, damals, als du getan hast, was du getan hast. Bevor du abgehauen bist.«
In mir zog sich alles zusammen und ich starrte auf meinen Hamburger hinab, der plötzlich nach nichts schmeckte. Aber ich antwortete nicht. Er sah mich an. »Ich finde, das schuldest du mir.«
»Aber du weißt doch, was geschehen ist.«
»Nein, weiß ich nicht. Jack und ich waren unterwegs. Hast du das vergessen? Hazel hatte uns zur Post geschickt und auf dem Rückweg holten wir noch einige Lebensmittel ab, die sie im Supermarkt bestellt hatte.«
»Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ihr da gewesen wärt.«
Ich kniff die Augen zusammen. Noah sagte nichts und ich wartete ab. Insgeheim hoffte ich, dass er von dem Thema ablassen würde.
Ich lief über den mit Schnee bedeckten Boden, in meinen Füßen spürte ich Taubheit und Schmerz zugleich. Die Flocken hatten aufgehört zu fallen und der Nachthimmel war klar. Er schnitt die Welt in zwei Hälften: glitzerndes Weiß auf dem Boden und mit Sternen gesprenkeltes Schwarz über meinem Kopf. Die frostige Luft brannte mir in Nase und Kehle und vor meinem Mund bildeten sich beim Ausatmen kleine Wölkchen. Die Tränen auf meinen Wangen wurden zu Eis. Trotz der arktischen Kälte war es der innere Schmerz, der am meisten wehtat. Immer wieder erinnerte ich mich an Noahs Blick, in dem zu sehen gewesen war, dass er sich betrogen fühlte. Langsam hatte er den Kopf von den Armen gehoben und hasserfüllt gesagt: »Wenn ich dich je wiedersehe, bringe ich dich um.«
Schließlich öffnete ich die Augen. »Was soll das bringen? Du wirst mich nur wieder von neuem hassen.«
Noah knüllte die Verpackung seines Hamburgers zusammen und griff nach meiner Hand. Er hielt sie fest und betrachtete meine abgekauten Nägel. Dann schob er seine Finger zwischen meine. »Ich könnte dich niemals hassen.«
»Damals hast du gesagt, dass du mich umbringen würdest, wenn du mich je wiedersiehst. Daran musste ich denken, als du mich gewürgt hast.«
»Ich war ein verängstigter Junge. Aber heute kann man doch sagen, dass es gut ausgegangen ist. Ich habe überlebt und du ebenfalls.«
»Edgar nicht«, flüsterte ich.
neunundzwanzig
GESTÄNDNIS
Ich wusch Geschirr ab und sang zusammen mit den Beatles »Ticket to Ride«, wobei ich auch die schwankenden Töne hielt. Wir durften nur Watertowns Oldie-Sender hören. Um sicherzugehen, hatte Hazel den Drehknopf mit Sekundenkleber festgestellt.
»Dein Gesinge ist echt furchtbar«, beschwerte sich Beth, doch sie schien milde gestimmt zu sein. Die langen, roten Locken hatte sie mit einem Gummi zusammengebunden. Ihre Augenbrauen waren so blass, dass sie man fast nicht sah.
Ich grinste. »Ach, hör auf! Eines Tages werde ich ein Rockstar. Bei der Figur!« Sie schüttelte nur den Kopf und ich sang weiter.
Ihre Kritik störte mich nicht, da ich wusste, dass meine Singstimme eher dünn war. Ihren Kommentar empfand ich eher als positiv, immerhin hatte sie gesprochen. Ich kannte Beth jetzt seit einem Jahr. Wir schliefen im selben Zimmer und ich hatte so viele einseitige Gespräche mit ihr geführt, dass ich mich daran gewöhnt hatte. Seit kurzem war es jedoch schon ein paarmal vorgekommen, dass sie das Wort an mich gerichtet hatte, und sie wirkte auch nicht mehr so zornig.
Der Schnee im Garten war bereits 30 Zentimeter hoch und es war bitterkalt – ein typischer Wintertag in Watertown eben. Vor dem Küchenfenster fielen Flocken wie wirbelnde Feen, die bezaubernd und abstoßend zugleich waren. Ich konnte kaum glauben, dass schon so viel Schnee lag, obwohl noch nicht einmal Dezember war. Trotz des tosenden Heizofens im Keller war es ungemütlich im Haus, besonders in der oberen Etage fror man. Bereits jetzt sehnte ich mich nach den Sommer- und Frühherbsttagen, in denen wir nicht auf das Innere von Seale House angewiesen waren.
Ich
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