Und wenn wir fliehen (German Edition)
Armeestützpunkt gemacht hatte. Es war jedoch viel schwieriger, so zu denken, während Tobias neben mir saß und mit den Fingern den Takt zu einer Melodie, die er gerade summte, auf dem Lenkrad trommelte.
Ich schob Meredith auf meinem Schoß etwas zur Seite, um in den Straßenatlas zu schauen. Ein paar Stunden bevor wir am Vorabend angehalten hatten, waren wir an den Schildern vorbeigekommen, auf denen New Brunswick angekündigt wurde. Es sah aus, als könnten wir es in drei Tagen bis Ottawa schaffen, falls der Schnee nicht noch viel höher wurde.
Und falls wir Benzin auftreiben konnten.
»Die Abfahrt da vorne sieht gut aus«, sagte Gav vom Rücksitz aus. Er zeigte auf eine Fahrspur, auf der der Wind den Schnee ganz flach geweht hatte, und Tobias nickte.
»Meinst du, es besteht die Chance, dass es irgendwo noch Strom gibt, Leo?«, fragte ich.
Seine Jacke strich an Tessas Mantel entlang, als er sich hinter mir bewegte. »Was ich zuletzt so gehört habe, waren wohl noch ein paar von den Kraftwerken in Betrieb«, antwortete er. »Aber die meisten liefen schon nicht mehr. Und das war vor über einem Monat.«
»Wenn wir eine Tankstelle finden, die noch Strom hat, kriegen Kaelyn und ich die Zapfsäulen schon irgendwie in Gang«, sagte Gav und knuffte mich in die Schulter. »Darin haben wir zwei eine gewisse Übung.«
Mir knurrte der Magen, als wir am Stadtrand an einem reifbedeckten McDonald’s-Schild vorbeikamen. Eigentlich mochte ich Burger nicht besonders, doch in diesem Moment hätte ich meinen linken Arm dafür gegeben, einen zu haben. Ein kleines bisschen vom Geschmack unseres alten, unseres normalen Lebens.
»Na, dann mal los«, sagte Tobias und kurbelte am Lenkrad.
Er hielt vor einer Reihe Zapfsäulen, die laut Beschilderung in Betrieb sein sollten, obwohl der gegenüberliegende Laden ganz dunkel war. Die Tankschläuche lagen ineinanderverschlungen auf dem Boden. Ich schob Meredith vom Schoß, trat hinaus in die Januarkälte und schüttelte das Gefühl zurück in meine reisemüden Beine.
»Was soll ich denn solange machen?«, fragte Meredith mit großen Augen.
»Warte einfach hier, ja?«, erwiderte ich. Gav stieg aus und wir gingen schnell zusammen zu dem Tankstellenshop.
Das Innere war geplündert worden: die Regale umgekippt, Zeitschriften und Kartons auf dem Fußboden zertrampelt. Ich hob eine Tageszeitung auf, um auf das Datum zu schauen. 16. November. Das war zwei Wochen nachdem wir auf der Insel jeglichen Kontakt zum Festland verloren hatten.
Die Zeitung fühlte sich seltsam dünn an, und als ich sie durchblätterte, sah ich, dass der Großteil der üblichen Abschnitte fehlte. Kein Sport, kein Kulturteil. Ich fragte mich, ob die Regierung derartige Veranstaltungen untersagt hatte, um zu vermeiden, dass die Leute an öffentlichen Orten zusammenkamen, oder ob die Organisatoren aus Angst vielleicht selbst einen Rückzieher gemacht hatten. Nach einem kurzen Blick auf die Schlagzeilen – US-Präsident ruft angesichts der weltweiten Pandemie zur Besonnenheit auf – Zusammenbruch der öffentlichen Versorgung droht – ließ ich sie auf den Tresen sinken. Ich kannte diese Berichte. Ich hatte das alles selbst erlebt, zuerst auf der Insel und jetzt hier in dieser verlassenen Stadt.
Gav drückte auf den Lichtschalter, ohne Ergebnis. Wir zwängten uns hinter den Tresen und nahmen die diversen Kontrolllämpchen in Augenschein. Gav seufzte.
»Sieht nicht gut aus.«
»Wäre vermutlich zu einfach gewesen, wenn wir ganz normal hätten tanken können«, antwortete ich. »Immerhin haben wir noch den Absaugschlauch.« Den hatte Leo zusammen mit unseren restlichen Vorräten aus dem Geländewagen mitgebracht.
Als wir wieder nach draußen kamen, sahen wir uns überall um, aber weder auf dem Tankstellenparkplatz noch vor dem großen Supermarkt auf der anderen Straßenseite standen irgendwelche Autos.
»Pech gehabt«, sagte Gav zu den anderen. »Wir müssen weiter in die Stadt rein und ein paar Autos suchen, aus denen wir etwas abzapfen können.«
Als Tobias den Wagen anlassen wollte, packte Leo plötzlich die Rücklehne seines Sitzes. »Warte«, sagte er. »Falls da irgendwo noch jemand ist … wenn wir in einem Armeefahrzeug auftauchen, schrecken wir sie vielleicht auf. Erwecken einen falschen Eindruck.«
»Meinst du nicht, hier drin ist es sicherer für uns, als wenn wir draußen rumlaufen?«, fragte Tobias.
»Darauf würde ich nicht wetten«, antwortete Leo ernst. »Zurzeit sind ’ne Menge Leute gar nicht
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