Und wenn wir fliehen (German Edition)
und er schlief. Ich lag mit meinem Freund zusammen im Bett. Zum ersten Mal seit Wochen hatten wir ein Zimmer nur für uns.
Auf der Insel hatten wir nur ein bisschen rumgeknutscht. Die ständige Sorge wegen des Virus hatte nicht gerade für romantische Stimmung gesorgt. Wir waren seit ein paar Monaten zusammen, aber ich war mir nicht sicher gewesen, ob ich schon mehr wollte. Und Gav hatte es offensichtlich nichts ausgemacht, sich danach zu richten. Aber ich hatte schon darüber nachgedacht, einen Schritt weiterzugehen. Ich dachte in diesem Augenblick darüber nach, darüber, was passieren könnte, wenn er jetzt aufwachte und mich näher an sich zog.
Ein paar Minuten später hatte er immer noch keine Anstalten gemacht, sich zu rühren, und ich konnte nicht wieder einschlafen. Sorgen schlichen sich in meine Gedanken. Ob das Feuer über Nacht wohl ausgegangen war? Wie sollten wir bloß zu dem Holzstoß gelangen, um Nachschub für den Ofen zu holen?
Ich krabbelte aus dem Bett, zog meinen Pullover über und ging nach unten. Ich war erleichtert, zu sehen, dass es hinter der Scheibe des Ofens fröhlich flackerte. In dem eisernen Kaminholzbehälter lagen drei frische Holzscheite. Leo saß auf dem Wohnzimmerboden, ein Bein seitlich angewinkelt, das andere gerade ausgestreckt und den Kopf auf das Knie gelegt. Er kam wieder hoch, drehte sich, um die Beine zu wechseln, und sah mich.
»Hey«, sagte er.
»Du hast ja neues Holz geholt.«
»Ich hab im Keller ein bisschen Seil gefunden«. Er zeigte mit dem Daumen auf eine Rolle, die am Kaminholzständer lehnte. »Ich hab mir das eine Ende um die Taille gebunden und das andere an den Türgriff. Dieser Wind ist echt übel. Ich bin mir nicht sicher, wie viel Schnee eigentlich vom Himmel kommt und wie viel nur aufgewirbelt wird.«
Er beugte sich über sein anderes Bein. Ich schob mich an ihm vorbei, ließ mich aufs Sofa sinken und zog die Füße neben mir hoch. Ihm dabei zuzusehen, wie er sich dehnte, kam mir völlig normal und gleichzeitig völlig fremd vor. Aber es heiterte mich auf.
»Ich hab schon lange nicht mehr gesehen, dass du dich aufwärmst«, sagte ich. Nicht mehr seit er auf die Insel zurückgekehrt war, um genau zu sein. Vielleicht hatte unsere Unterhaltung am Tag zuvor ja etwas bewirkt – ihn irgendwie befreit, so dass er sich wieder den Dingen zuwenden konnte, die ihm wichtig waren.
»Wir hatten ein ziemlich hartes Vormittagsprogramm in New York«, erklärte Leo, verdrehte schlangenmäßig seinen Oberkörper und warf mir ein kleines Lächeln zu. »Ich steh anscheinend irgendwie auf körperliche Qualen.«
»Schon immer.« Er war bereits absolut streng mit sich gewesen, bevor überhaupt die Rede davon war, dass er es bei einer New Yorker Tanzhochschule versuchen sollte. Doch damals gab es Bühnen und große Auftritte in Städten, von denen er träumen konnte. Für wen sollte er jetzt noch tanzen?
»Tessa hat erzählt, dass es dir an der Hochschule wirklich gut gefallen hat«, sagte ich.
»Es gefiel mir von dem Augenblick an, als ich den Fuß da hineingesetzt hab. Es war eine Welt für sich, wo man gemeinsam schlief und aß und alle den Tanz im Blut hatten. Ich konnte irgendwelche Techniken oder Choreographen erwähnen und jeder wusste, wovon ich sprach.« Er winkelte den einen Arm hinter dem Kopf an und drückte mit der Hand den Ellbogen herunter. »Nichts gegen den Unterricht von Mrs Wilcock – für jemanden, der schon über zehn Jahre aus dem Geschäft ist, hat sie ihre Sache toll gemacht –, aber es gibt so viel, von dem ich gar nicht geahnt hatte, dass ich es noch nicht konnte.«
Und das Virus hatte ihm diese Traumwelt schon nach ein paar Monaten wieder genommen. Nun würde er vielleicht nie die Chance bekommen, all das zu lernen, was er noch nicht konnte. Ein dumpfer Schmerz bildete sich hinter meiner Brust.
»Was hast du denn beim Vortanzen gezeigt?«, fragte ich.
»Ein modernes Stück«, erwiderte er und dehnte seinen anderen Arm. »Von mir selbst choreographiert, mit ein paar Anregungen von Mrs Wilce. Ich hab dazu einen Song von Perfect Mischief genommen – Orbits , kennst du den?
Ich kannte ihn auswendig. Während der letzten Sommerferien, die wir mit vierzehn zusammen auf der Insel verbracht hatten, war Leo von diesem Song regelrecht besessen gewesen. Vor unserem Streit. Er hatte seine Earphones mit mir geteilt und ihn mir auf seinem iPod vorgespielt. Das war ein paar Tage, bevor sich meine Gefühle für ihn von Freundschaft zu mehr gesteigert
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